I.

Von Hamburg über Zürich und Dakar nach Rio de Janeiro führt Irma und Jäcki im Februar 1969 die Flugroute, auf der die erotisch, kulturell und politisch vorbereitete “Utopie von einer Neuen Welt” ihre zunächst touristische Konkretisierung erhalten soll.[1] “Dauernd[e] Angst” und “Baldriantabletten”, “Überseeflugzeugpuschen” und ein “venezianisch anmutende[r] Augenschoner” (E 15) begleiten die Passage in der “metallene[n] Wildgans zwischen den Kontinenten” (E14). Die Ankunft in der “Fremde” markiert ein Ereignis, dessen Beschreibung zwischen religiösem Ritual und hygienischer Maßnahme oszilliert, das überdies die Koordinaten der Reise subtil verschiebt:

 

“Mit der Geste segnender Kardinäle desinfizieren zwei Beamte des Flughafens, bei abgestellter Klimaanlage die Kleiderablage über den Köpfen eine Viertelstunde lang und unten den Fußboden, die Unterröcke, die Socken.
Damit jede böse Mücke von der afrikanischen Küste aus den Sümpfen Dakars hier an der amerikanische[n] Küste nicht in die Sümpfe Rios aus dem Flugzeug entfliegen kann.” (E 15f.)

 

Die Reise von der Alten in die Neue Welt, von Hamburg nach Rio, wird von einer Schwelleninszenierung überlagert, die das Oppositionspaar traditioneller kulturgeographischer Topik überformt. Bis in den Parallelismus des Satzbaus ist das Korrespondenzverhältnis von afrikanischer und amerikanischer Küste, der Sümpfe Dakars und Rios zu verfolgen: “Afroamerika” (E 12). Im Roman der Ethnologie, der seinerseits die Herkunft dieses “Thema[s] ” erzählt, wird man die Formel für ein solches Verhältnis zweier Erdteile und zugleich für die Perspektiven seiner Erkundung finden:

 

“Synkretismus, dachte Jäcki noch einmal.

Bikontinentalität.

Bisexualität

Und ihm wurde ganz feierlich schriftstellerisch zumute.” (E 92f.)

 

Was diese Überlagerung bereits impliziert, verrät zum einen der Schlussabschnitt des zweiten Teils von Fichtes nachgelassenem Roman der Ethnologie.

Am Ende eines nun nicht mehr touristischen Aufenthalts in Salvador da Bahia steht eine Allegorie der Rückkehr; in sie trägt sich gleichsam beiläufig das Phänomen ein, das historisch am Anfang solch globaler Triangulation steht.

 

“So kehrte Jäcki heim wie ein Kauffahrteischiff mit dickem Bauch:

Es trug schwarze Muscheln von der Osterinsel,

eine Sexualität Chiles,

Die Geschichte der Ewigkeit in der Erstausgabe,

eine Fotografie von Lautréamont und die Akten der Belagerung von Montevideo,

Köpfe aus dem Nordosten

Leichen und Kochkunst, Nina Rodrigues’ Anormale Gesellschaften, Tempelkleider.

Irmas zweihundert Filmröllchen: Gesichter und Hände, Blut. Blutbäder verborgen

unter chemischen Schichten, warten auf den Entwickler und das Fixierband.

Material: Tagebücher, Interviews, Features und Essays.

[…]

Kauffahrer wirklich?

Nicht auch Pirat?

Sklavenhändler?

Seelenhändler?

Hatte der Ethnologe, hatten Verger und er etwas zu tun mit dem Dreieckshandel:

Venezianischen Schmuck nach Ouidah, Sklavenhandel nach Bahia de Todos os Santos

Tabak minderwertiger Qualität nach Afrika zurück?” (E 413)

 

Als ‘Dreieckshandel’ wird für gewöhnlich das südatlantische Handelssystem bezeichnet, das im 16. Jahrhundert zwischen Portugal, der afrikanischen Westküste und Brasilien etabliert wird. Dessen einflussreicheres nordatlantisches Double steht dann im 17. Jahrhundert für die Handelspraktiken und -wege zwischen Europa, Westafrika und dem nördlichen Brasilien sowie der Karibik. In diesem globalen und bald auch globalisierten Zirkulationssystem, der Begründung einer “frühneuzeitlichen Weltwirtschaft”, werden – so die grob systematisierende Verknappung außerordentlich komplexer Vorgänge – Gebrauchsgüter (vor allem Textilien und Waffen) von Europa nach Afrika, Sklaven von Afrika nach Südamerika und Rohstoffe (Holz, Tabak, Zucker) von Südamerika nach Europa verschifft.[2] Bis in die Pointe einer Verzweigung in diesen Routen, die von Brasilien sowohl nach Afrika als auch nach Europa zurückführen, scheint Jäckis Allegorie den (Infra-)Strukturen dieses Handelssystems und deren historiographischer Rekonstruktion zu folgen.[3]

Zum anderen spiegelt sich im Verhältnis der beiden Küsten, das in der eingangs zitierten Passage als eines der Symmetrie und zugleich der Differenz ausgestellt wird, der Hauptgegenstand der “Forschungen”,[4] die Fichtes breitgefächertes Œuvre seit den frühen 1970er Jahren zur Darstellung bringt. Phänomenalität und Genealogie der afroamerikanischen Religionen motivieren eine bereits zu Fichtes Lebzeiten auch typographisch als eigenständige Werkgruppe ausgezeichnete Publikationsreihe: die Doppelbände Xango und Petersilie sowie Lazarus und die Waschmaschine, dessen Untertitel eine “[kleine Einführung in die Afroamerikanische Kultur” ankündigt.[5] In ihnen nimmt Fichte erkenntnispolitisch – und das durchaus in polemischer Zuspitzung – Partei gegen die “Verknappung der Rohmaterialien” in den “Wissenschaften vom Menschen” (L 208). Eine darauf bezogene Programmatik der “Materialien”,[6] der Daten strukturiert seit dem Versuch über die Pubertät (1974) und vor allem im Projekt der ‘Geschichte der Empfindlichkeit’ dann ganz maßgeblich auch Fichtes Romanpoetik. Das anspruchsvolle poetologische Anliegen dieses Doppelunternehmens ist es, Beobachtung erster und zweiter Ordnung sowie ihr Verhältnis zueinander zum Gegenstand der Darstellung und der Reflexion gleichermaßen zu machen: eine “Form” zu finden, die Jan-Frederik Bandel zufolge “das Material und die Erzählung im wechselseitigen Kommentar“ verbindet.[7]

 

“Jetzt geschieht alles gleichzeitig.

Die Sprache, die ich an verschiedene gleichzeitige Vorgänge heranbringe, Kritik – Unterscheidung – der Vorgänge, Kritik der Unterscheidung dieser Vorgänge.

Meine Sprache ist an die Zeit ihres grammatischen Ablaufs gebunden.

Gleichzeitiges erfaßt sie, während sie vorgeht, nur nacheinander.

Hieroglyphen würden das Miteinander der Tatsachen vollständiger abbilden.

Ich muß also eine Reihenfolge festlegen, auswählen, und das heißt – den Denkgewohnheiten nach – werten.”[8]

 

Mitsamt seinen zwischen Explorationsabsicht und Erfahrungshunger gespannten Haupt- bzw. Erzählfiguren Jäcki und ‘ich’,[9] die solche Spannung so wenig auszustellen und zu thematisieren versäumen wie ihre eigene Verdoppelung, hat man die Ergebnisse von Fichtes Forschungen als Spielart einer ‘literarischen Ethnographie’, einer anthropologie poétique, einer ‘Ethnopoesie’ bestimmen[10] oder in ihnen die konstitutive Liminalität eines “Schreiben[s] auf dem Grund des Fremden” als Organisationskern des “einzige[n] Buch[s] ” entdecken wollen, das Fichtes Œuvre letztlich darstelle.[11] Diese von der Forschung seit Heißenbüttels Xango-Rezension ausgiebig verfolgte[12] und terminologisch migrierende –Zuschreibung – der ich im Folgenden weiter nicht nachgehen will – sollte man wohl zuallernächst gegen Fichtes eigene, wenn auch wiederum nur beiläufig eingespielte, aber entscheidend differente Formulierung einer “poetologische[n] Anthropologie” halten; dies zumal, da selben Ortes die bestimmte Unterscheidung zwischen ‘poetisch’ und ‘poetologisch’ explizit wiederholt wird.[13] Es geht Fichtes Forschungen um Darstellungsweisen und Wahrnehmungsweisen zugleich – es geht ihnen, heißt das, um Medialität: um “[d]ie Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert”, wie Walter Benjamins grundlegende Definition festgehalten hat.[14]

 

II.

 

“‘Die touristische Entwicklung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts’” – Diesen Titelvorschlag macht Fichtes 1971 in der Zeit als “Gespräch” veröffentlichter Interview-Briefwechsel mit Dieter E. Zimmer für das später als “Geschichte der Empfindsamkeit” und schließlich “Geschichte der Empfindlichkeit” benannte, großangelegte und beim Tod des Schriftstellers im Jahr 1986 unabgeschlossene Arbeitsprojekt. Auf Zimmers erwartungsgemäß irritierte Nachfrage hin – “Wie bitte?” – führt Fichte diese Titelpointe aus: “Von Ausnahmen abgesehen, gibt es zwei Gruppen von Leuten: die mit Touropa reisen und die vor Hunger Militärkantinen plündern. Es geht mir darum, die Entwicklung eines Mitglieds der ersten Gruppe zu schildern und seine Reaktion auf die zweite.”[15] Dass eine “unausgesetzte Reisetätigkeit […] Voraussetzung und Bedingung” von Fichtes Œuvre bildet, dass es einer “Ästhetik der Reise” aufsitzt, ist allein schon aus thematischen Gründen kaum von der Hand zu weisen.[16] Was die Ästhetik, beziehungsweise der Benjaminschen Definition folgend: die Medialität dieses Reisens betrifft, zeigt eine Variante zwischen Erstdruck und Taschenbuchausgabe des Versuchs über die Pubertät die Fluchtlinie, auf der sich im Laufe der 1970er Jahre das oben skizzierte Programm von Fichtes Forschungen bewegt. Die Erstausgabe des Romans, den Fichte während des zweiten Brasilienaufenthalts in Salvador de Bahia verfasst hat, unterstellt das Verhältnis von Reisen und Schreiben einer Ordnung der Repräsentation. Mit “Reisebeschreibung.” tituliert dort die Erzählfigur das siebenseitige Protokoll ihrer Frankreichreise.[17] In der Ausgabe von 1982 liest man als erste Zeile der entsprechenden Passage hingegen “Reiseschreibung:”[18] – und mit dem Verzicht auf das Präfix und der Interpunktionsänderung verwandelt sich die Nomenklatur in ein Performativ, die repräsentative Rekapitulation in die Ankündigung einer Poiesis. Die Medialität von Fichtes Werk ziele auf “eine Hervorbringung und eben nicht Nachahmung […] von Welt”, haben Braun und Weinberg angesichts dieser zweiten Version festhalten können.[19] In der Tat gibt es Indizien dafür, dass eine dergleichen poietische, gleichsam medienkonstruktivistische Vorstellung der ‘Reiseschreibung’ die radikale Antwort auf das beinahe gleichzeitig in der anthropologischen Methodenreflexion diskutierte Repräsentationsdilemma bieten könnte:[20]

 

“ – Du mußt es doch sehen, sagte Irma: Wie willst du sonst darüber schreiben. Die Häuser. Die Bewohner. Den Dugu-Ritus. Die Schwarzen Kariben.

– Wir haben das doch längst intus, wenn wir uns nichts vormachen. Ich schreibe dir einen schöneren Dugu-Ritus, als sie ihn je aufführen. Ich brauche ganz wenig, fast nichts. Keine Kamera, keine Dunkelkammer und den Stern. Ein bißchen Schmutz und einige Ornamente, die ihn auf das Papier übertragen.”[21]

 

Doch wäre eine Verallgemeinerung von Jäckis radikaler Version für Fichtes Forschungsprogramm unangemessen. ‘Reiseschreibung’ zielt nicht auf eine Poiesis des Gegenstands mittels schriftlicher Darstellung, sondern auf ein “Strukturen-Schreiben”, das im Idealfall “bei der Erforschung der Geschichte […] die Erforschungsgeschichte mit abbilden”,[22] Erkenntnisinteressen, -vorgänge, -gegenstände, -resultate in ihren wechselseitigen Verwindungen “[p]oetisch freilegen” kann.[23] Als Voraussetzung dieser spezifischen Organisationsform dienen Formate des Kontakts, die einerseits durch gelehrte und mediale Techniken vorbereitet und/oder gespeichert werden können – Zettelkasten und Fragebogen, cut&paste, Fotografie und Tonaufnahme –, die andererseits sexuellen und rituellen Praktiken ihr mediales Profil verleihen. An ihnen artikuliert sich die eingangs formulierte Pragmatik, aber eben auch Problematik doppelter Beobachtung, deren ‘Ergebnis’-Darstellung sich stets zwischen Repräsentation und Poiesis bewegt, ohne je im sicheren Hafen der einen oder anderen anlegen zu können.[24] Doch steht weniger eine Krise der Repräsentation am Ausgang dieses Problematisierungsbedarfs als vielmehr eine der Beobachtung selbst. Die Formel “Synkretismus, […] / Bikontinentalität. / Bisexualität” (E 92f.) markiert den programmatischen Abwehrzauber gegen die “altmodisch[e] Auffassung von der Wissenschaft vom Menschen”, die “[d]as Echte, das Alte, das Ursprüngliche […] höher bewertet als das Gemische, das Ephemere, das Verfälschte” (L 285). Entsprechend formuliert der forschende Schriftsteller Jäcki genau so wie sein Double Fichte seinen Arbeitsauftrag:[25]

“Jäcki interessierte die Reinheit nicht.

Ihn interessierten die Mischkulturen […].

Das war die Realität der Religionen, die sich in Bahia de Todos os Santos mischten. 600 oder 800 unreine Tempelchen die täglich neue Mütter und Väter vor sich hinzeugten nur drei im Jahr es würde Tausende Tempel in zehn Jahren ergeben.” (E 196)[26]

 

Die Gegenstände der Forschung, die rituellen Praktiken der afroamerikanischen Religionen, erscheinen als Mischgebilde, die ihre zu beobachtende und zu beschreibende Form im Vollzug annehmen. Es geht dementsprechend in Jäckis Forschungsvorhaben hauptsächlich um “die Gesten einer Religion” (E 207), nicht um ihre Gesetze und Ursprünge; “alles darstellen”, lautet die dazu passende (re-)präsentationsbezogene Devise, “genau und vollständig” – ihr gilt es zu folgen mit der Einsicht, dass sich “eine genaue und vollständige Darstellung der afroamerikanischen Welt” jeder Vorstellbarkeit entziehen muss (E 191).

Diese Kritik der Beobachtung indes bleibt nicht der Seite des Gegenstands vorbehalten. Die knappe Forschungsübersicht, die Fichte in seinem Aufsatz zur Situation der afroamerikanischen Religionen in Brasilien gibt, weist auf eine institutionelle und in ihren Konsequenzen zu thematisierende Besonderheit hin: Bereits der erste Erforscher des Candomblé, der Rechtsmediziner und Psychiater Raimundo Nina Rodrigues (1862–1906), hat auf die Gegenstände seiner Abhandlung über L’animisme fétichiste des nègres de Bahia (1896/1900) keineswegs nur den klinischen Blick gerichtet, den das epistemologische Voraussetzungsgefüge eines methodisch an Cesare Lombroso und Alfred Binet geschulten Anthropologen erwarten ließe. “Nina Rodrigues ist einer der ersten Naturwissenschaftler, die in den Candomblé eingeweiht wurden” (L 215). Obgleich Verfechter einer sowohl biologischen als kulturellen Degenereszenz-Theorie, in der métissage und Verbrechen konstitutionell miteinander verbunden sind,[27] obgleich er in der Trance Effekte hypnotischer Suggestion und nicht etwa die Übertragungsereignisse göttlicher Besessenheit sieht, hat Nina Rodrigues nach seiner Einweihung die Funktion eines ogan im Candomblé Gantois innegehabt – eine Funktion, an der nach Edison Carneiro die materiale und symbolische Ökonomie der rituellen Praktiken hängt.[28] Fichte ist weit entfernt davon, in solchem institutionellen Involviertsein bloß einen Verstoß gegen das Objektivitätsideal der klassischen Epistemologie zu erkennen. Vielmehr sieht er darin den Anstoß zu einem “Muster von doppelter Komplizenschaft” (L 221) und “doppelte[m] Verrat” (E 831) gleichermaßen; diese Ambivalenzmatrix artikuliere sich in der “Koketterie von Wissenschaftlern, die sich mit den Ehrentiteln der Magie schmücken”, und im Verhalten von “Priestern, die sich mit den Ehrentiteln der Universitäten brüsten” (L 221). Es sind, auch hier, die drohenden Beeinträchtigungen der Wahrnehmungsorganisation, die Fichte angesichts solcher Doppelinstitutionalisierungen zur Debatte stellt und deren Folgen den Gegenstand gleichermaßen affizieren wie die Akteure, dessen Darstellung ebenso wie die Praktiken selbst.

 

“Der Naturwissenschaftler betritt also den Tempel der ehemaligen Sklaven mit den Privilegien des Weißen, des Wissenschaftlers und den Repressionsmöglichkeiten der Universität und des Gerichtsmedizinischen Instituts, im Zweifelsfalle mit der Polizei. Die Universität betritt er mit dem Privilegien des Archaischen, des Wilden und den Repressionsmöglichkeiten der Geheimgesellschaft, im Zweifelsfalle mit schlimmen oder gar tödlichen magischen Arbeiten, vor Kollegen, Verlegern, Studenten, die allesamt, wenigstens unbewußt, die afrikanischen Gottheiten fürchten.

[…]

Schriftlich, und nur das gilt hier, erzeugt ein solcher doppelter Verrat eine unerträgliche Bauchrednerei, ein Geflunkre und Gekoller […].” (L 215f.)

 

“Das Muster von doppelter Komplizenschaft wird eingeübt, von Gewährung und Entsagung, das nicht nur zu Einweihungen von Wissenschaftlern führt, sondern auch zu Einweihungen durch Wissenschaftler. ” (L 221)[29]

 

Gegen diese Logik der Intrige mag man gelegentlich und gleichermaßen strategisch diejenige der Aufklärung in Stellung bringen können.[30] Jenseits dieses Bezugsschemas klassischer Epistemologie und der von ihm provozierten Aporien aber stehen Formen der Wahrnehmungsorganisation, die man in freier Anlehnung an ein seit einigen Jahren boomendes kulturwissenschaftliches Konzept als ‘travelling media’ bezeichnen könnte – wobei der Akzent eher auf dem Partizip als auf dem Substantiv zu liegen kommt:[31] Es geht, um beim privilegierten Forschungsgegenstand der afroamerikanischen Religionen zu bleiben, um die Formate des Reisens, in denen sich dessen ‘Bikontinentalität’ herstellt und die/denen Fichtes Forschungspraktiken nachstellen. Wenn in der Antwort auf D. E. Zimmers Rückfrage Tourismus und sozial bzw. ökonomisch bedingte Zwangsmigration als aktuelle Formate solcher Passagen genannt werden, handelt es sich darum zunächst nur um zwei (zeitgenössische und nicht per se transkontinentale) Erscheinungsformen, zu denen in historischer Profilierung die ‘middle passage’ des transatlantischen Sklavenhandels, in epistemischer die ethnologische Forschungsreise und in poetologischer die Reiseerzählung zu treten hätten. Mit ihrer Konfrontation und Überlagerung will Fichtes Œuvre der Devise gerecht werden, die er in seinem Herodot-Aufsatz dem wahlverwandten Paten seines Forschungbegriffs zugeschrieben hat: “Reisen ist Wissen!”[32]

 

III.

 

Doch was wäre die Form, das Format: die Medialität solchen Reisens? Es ist verlockend, Fichte aufgrund der Prämissen und Verfahren seiner ‘Reiseschreibung’ als “Vorläufer”[33] der in den frühen 1980er Jahren beginnenden ethnologischen Methodendiskussionen zu sehen – jener für gewöhnlich unterm Stichwort einer ’Krise der Repräsentation’ versammelten Debatten zum writing culture, die von der Zielrichtung und von der Sache her in der Tat auffällige Konvergenzen mit den eben skizzierten Problemzusammenhängen aufweisen.[34] Ähnliches scheint das Thema von Fichtes Forschungen für einen zweiten Diskussionskomplex nahezulegen: Wiederum seit Mitte der 1980er Jahre hat unter dem Dach der Atlantic History eine breite Interessensverschiebung weg von den klassischen staatlichen Akteuren hin zu ganz anders gelagerten und zu verortenden Akteur-Netzwerken begonnen, die in Vielem den ‘bikontinentalen’ Befunden entspricht, wie sie Fichtes Forschungen zutage fördern.[35] Ihren vielleicht prominentesten Ertrag findet sie in Paul Gilroys Konzept des Black Atlantic, das zum ersten Mal einer spezifischen, historisch dominanten und damit der folgenreichsten Form der Atlantikpassage die ihr zustehende Relevanz gibt: der sogenannten ‘middle passage’ des transatlantischen Sklavenhandels, auf der zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert über zwölf Millionen Zwangsverschiffte von der Westküste Afrikas in die Amerikas transportiert worden sind.[36] Silke Gramer hat darauf hingewiesen, dass Gilroy – und nach ihm Marcus Rediker in seiner beeindruckenden Geschichte des Sklavenschiffs[37] – “die Räumlichkeit des Atlantiks und des darauf fahrenden Schiffes als Bild für die freiwilligen und unfreiwilligen Reisebewegungen [wählen], auf denen koloniale, neokoloniale und postkoloniale Verhältnisse sich gründeten und gründen.”[38] Aber sie tun dies – so lässt sich ergänzen – eben keineswegs nur, ja vielleicht überhaupt nicht als ‘Bild’, sondern als ‘Chronotopos’. Als ein solches strukturelles Raum-Zeit-Vehikel, das die Atlantikpassage zur Organisationsform neuartiger Identitätsbildungen und -Verhandlungen macht,[39] ist das (Sklaven-)Schiff Medium, agency und konkreter Ereignisraum zugleich.

Es ist ein Leichtes, eine Korrespondenz zu dieser Medialität der Passage in der zu Beginn meines Beitrags zitierten Ankunftsszenerie von Fichtes Roman der Ethnologie zu finden. Insbesondere die “Geste segnender Kardinäle” (E 15), die der Erzähler in den Desinfizierungsmaßnahmen der Flughafenbeamten ausmacht, schreibt eine Art der Wahrnehmungsüberlagerung fest, die Fichte sowohl in den beiden Hörspielen San Pedro Claver (1975/76) und Großes Auto für den Heiligen Pedro Claver (1980/81) als auch in seinem (Radio-)Essay zu Alonso de Sandoval (1980/81) eingesetzt hat. Als Integrationsfigur für eine Genealogie des frühneuzeitlichen iberischen Sklavenhandels nach Südamerika taucht dort eine Engführung medizinischer und religiöser Hygiene in den Praktiken der jesuitischen Missionare auf; sie ist sicherlich bereits in Alonso de Sandovals Ausführungen zur “Herstellung des Heils der Schwarzen” angelegt,[40] deren zweites Buch die “males del cuerpo” und “diejenigen der Seele” (“los del alma”) parallel setzt und das Tableau entsprechender Gegenmaßnahmen entwirft.[41] “Taufen und Taufdiskussion überkommt die Patres wie eine Epidemie” (HL1 372), wiederholt und kommentiert Fichtes Essay diese Engführung auf dem nächsthöheren Beobachtungslevel. Im ersten der Hörspiele bildet nun ausgerechnet “eine Reisegruppe aus Hamburg”, die “mit der letzten Caravelle gekommen” ist und “Empfehlungsbriefe von den Afrikahändlern aus Frankfurt und Bremen” vorweisen kann, den poetischen Katalysator einer Darstellung, die Reiseformen des Tourismus und Passagen des Sklavenhandels über die historische Unvereinbarkeit hinweg zusammenbringt:

“1. Turistenführer:

Hier sehen Sie den weltberühmten, zu seinen Lebzeiten heiligen Pedro Claver, der wenigstens 300 000 Äthiopen, das sind Mohren, taufte. Sein Blut in Egeln und Binden, vom Schröpfen, heilt Blindheit, Kropf, Fußpilz, Schizophrenie, Impotenz, Frauenleiden. Er kann Tote erwecken und geborstene Eier wieder zusammenfügen. Ein Haar von ihm in der Börse sichert dem Besitzer ewigen Reichtum.”[42]

 

Damit wird, bei allen thematischen und erkenntnispolitischen Wahlverwandtschaften, auch die entscheidende Differenz zwischen Fichtes transatlantischer ‘Reiseschreibung’ und den Absichten historischer respektive kulturwissenschaftlicher Atlantikforschung deutlich, die das Bezugsmodell der Vorläuferschaft nicht nur aus epistemologischen Erwägungen obsolet macht. Denn in den Konstellationen der Atlantic History fällt, wie es einer ihrer Doyens formuliert hat, der Raum der Zeit zum Opfer.[43] Und dies in doppelter Hinsicht: einmal in der (verkehrstechnischen, logistischen) Überwindbarkeit von Distanzen, wie sie die transatlantischen Passagen seit der frühen Neuzeit voraussetzen; dann zieht vor allem die erwähnte Perspektivenverschiebung auf konkrete Akteure, und das heißt: auf die Reisenden und Verschifften, auf die Verkehrsmittel und logistischen Konkretionen, auf die Wege schließlich, eine auch darstellungsbezogene Verzeitlichung des Raums nach sich. Statt der Architektur ökonomischer Strukturen und statistischer Daten sind es die Geschichten der Passagiere und die Ereignisse der einzelnen Passagen, von denen die Rekonstruktion ausgeht.[44] Fichte setzt genau umgekehrt am lokalen Phänomen an: Dass Historisierung seine Sache nicht ist, belegt schon das irritierende Beharren auf “Ethologie” (P 359) in seiner anthropologischen Selbstverständigung, zeigen auch die gelegentlich tollkühnen, zutiefst anachronistischen Assemblagen, mit denen er afroamerikanische Religionspraktiken und literarische Texte umstellt.[45] Wenn es auch angesichts der Wahrnehmungs- und Erkenntnisform des Reisens zunächst paradox klingen mag – die Funktion von Fichtes globalen Medien besteht in einer Verräumlichung von Zeit.[46] So das vielzitierte Motto des Versuchs über die Pubertät,[47] so Fichtes eigene Verfahrensweisen des Planens und Schreibens[48] und die Poetik des bei lokaler Gleichzeitigkeit ansetzenden ‘Strukturen-Schreibens’:

 

“Wenn man den Begriff der Struktur mathematisch reduziert – Anordnung von Größen […] –, so handelt es sich hier um Strukturen-Schreiben.

Die Koordinaten sind:

Quer:

Zeitlich nebeneinander bestehende Kategorien, nach denen ich fragte – Image, Geheimnis, das Haus, die alten Damen, die Götter, der Rhythmus, das Gesetz, die Reinheit – synchron, Material;

längs:

wie in Schächten der sprachliche Ablauf, durch den die Kategorie sich abbildete – diachron, die Geschichte der Forschung.

Die einzelnen Punkte werden dynamisch aufgewiesen.

Kann ich Zeit als Material zerlegen?

Kann Geschichte wie Eis erstarren und zur Erforschung in Schichten zerschnitten werden?

[…]

Mathematisch fallen im Unendlichen die Koordinaten aufeinander.

Poetisch fixiere ich Zeitpunkte und bringe sie durch eigene Erfahrung erneut zur Bewegung.

Praktisch suche ich aus einem anachron geordneten Zettelkasten die Aussagen zu jedem Punkt zusammen und ordne sie nach dem Datum der Mitteilung.”[49]

 

Und so auch die Frage nach der Hetero-Topie einer “andre[n] Welterfahrung […] – [n]icht Touropa, Spartakus-Guide und Marcel Mauss – […], sondern Warten, in der Mitte einer Welt und ihres Geschehens, bis das Fremde auf einen zukommt und sich erschließt?”[50] Es verwundert deshalb nicht, dass der Tourismus, der vielleicht als einzige Reiseform geradezu per definitionem von einer Verräumlichung von Zeit her bestimmt werden könnte,[51] zum Bezugs- und Abgrenzungsmodell für Fichtes Reflexionen dient.

 

IV.

 

Dieser konzeptuellen Verräumlichung von Zeit entsprechen die technischen Grundlagen aller Medien, deren sich Fichtes Œuvre bedient: Schrift, Tonband, Fotografie/Fotofilm. Wie die Materialien seiner Poetik bzw. Schreibweise, stehen auch diese Grundlagen in ihrer Verwendung zugleich unter Beobachtung. “Verweile doch, du bist so schön. / Wenn Goethe die Fotografie gekannt hätte”, sagt Irma in Hotel Garni, jenem Roman also, der die Geschichte der Empfindlichkeit eröffnet und selbst mit der vielzitierten, aggressiven Collagierszene des Theaterstückverfassers Jäcki beginnt.[52] Doch allein schon mit ihrer notorischen Vorliebe für die Liste, das Alphabet oder die Chronik zeigt Fichtes Schreibweise eine besondere Affinität zu Darstellungsformen schriftmedialer Räumlichkeit, die mehr und anderes vermögen als eine graphische Fixierung (beziehungsweise Indizierung) eines Sprachverlaufs: “Schreiben ist ein Verfahren, das in der Lage ist, räumliche Ordnungen zu schaffen. ”[53] Als Einübung in Kognitionsmusterbildungen hat Mary Carruthers eine der auffälligsten Techniken bezeichnet, die Fichte so zum Einsatz bringt: die versus rapportati,[54] in denen das syntaktische Gefüge und damit die regulative Vorstellung eines Sprachverlaufs in einen kalkulierten Konflikt mit dem graphischen Zeilen- bzw. Versgefüge gerät und die so zugleich auf “horizontale wie vertikale Bezugstiftung” angelegt sind.[55] Im Versuch über die Pubertät setzt Fichte diese Technik, wie Hartmut Böhme gezeigt hat, für eine mit “Pozzi barock (versus rapportati)” überschriebene Zitatmontage aus Hans Henny Jahnns Das Holzschiff (1949/59) ein.[56] Der Roman nimmt sie zum Anlass, eine Materialpoetik aus dem Spannungsverhältnis von Gleichzeitigkeit und Sprachverlauf zu formulieren, also genau die Polarität von Räumlichkeit und Zeitlichkeit auszustellen, an der Fichtes Medialität ansetzt:

 

“Da ist Pozzi.

Da bin ich.

Das weiß ich von Pozzi.

Jetzt begegnen wir uns.

Und wie Dieusifort, der haitianische Schamane, um seinen toten, geistlichen Vater zu beschwören, die Schwingungen der Stimme des Toten, die Achs und das Husten imitiert, die Wortwahl – eine Maske aus Sprache – so verleibe ich mir Pozzi ein und seine Wörter, Akzente, Rhythmen kommen mir über den Mund; beherrsche ich seine Sprache oder benützt er meine Lippen?”[57]

 

Aber auch jenseits solcher Zuspitzungen korrespondiert die dominante poetische Form von Fichtes Texten mit ihren parataktischen “Satzfolgen”, in denen “ein Satz […] zugleich ein Absatz” ist,[58] mit einer typographischen Einrichtung der Seite, die deren Räumlichkeit geradezu ausstellt. Auf Fichtes inszenatorische Strategie der “Oberfläche”, bei der das Gedruckte und die “Leerräume” gleichermaßen wahr- beziehungsweise ernstzunehmen sind, hat Gisela Lindemann bereits in den 80er Jahren hingewiesen.[59] “Die Sätze Fichtes zeigten sich als: Sätze. Die Buchseiten, auf die sie gedruckt waren, als: Buchseiten”, hat Dirck Linck präzisiert und “[d]ieses Ausstellen der Materialität des Textes” als ein Spezifikum und zugleich Differenzkriterium benannt, das die Fichte-Lektüre präge: “Die Literatur, die wir kannten, präsentierte ihre Buchseiten als Fenster, durch das man in die Welt der ausgefabelten Fiktion einsteigen konnte, um sich dabei als alltägliches Individuum auszulöschen. Die Schrift machte sich transparent, um uns den Einstieg zu erleichtern. Den Ausstieg. Fichte legte sie uns in den Weg, schloss das Fenster, und die Seite wurde wieder Text. ”[60]

Zumindest von der performanzaffinen Radiomythologie einer ‘tönenden’ Überwindung von Zeit und Raum her mag es vielleicht eher überraschend anmuten,[61] dass die mediale Programmatik einer Verräumlichung von Zeit offensichtlich selbst für Fichtes Radioproduktionen, seine zahlreichen Hörspiele und Features, Verbindlichkeit haben kann – soll Rundfunk doch, dieser Mythologie zufolge, die globalen Extensionen des Raums auf das ‘Jetzt’ der Sendung zusammenschnurren lassen. “Mach ich tatsächlich sehr gerne: Funk, Schneiden, Zusammensetzen”, hat Fichte in einem Gespräch mit Peter Laemmle zu seinen Rundfunkarbeiten geäußert.[62] Vor allem Gerd Schäfer hat darauf bestanden, dass Fichtes Radioproduktionen trotz ihrer großen Zahl und ihres Broterwerbcharakters zumindest zum Teil durchaus ins Umfeld jener Experimente zu zählen sind, die Mauricio Kagel und Klaus Schöning zur “Kunst des geschnittenen und montierten Tonbands” erklärt haben.[63] Wohl nicht nur aus terminologischer Bequemlichkeit hat sich auch dafür die Bezeichnung ‘Collage’ eingebürgert, die Fichtes Radioarbeiten mit dem Diskussions- und Produktionskontext des ‘Neuen Hörspiels’ in Verbindung bringen, mit der vor allem aber – und zwar vor aller konkreter medialer Realisierung – die generative Matrix einer “eigenen ‘radiophonen’ Schreibweise” begründet werden soll.[64] Es liegt allerdings generell, wie mir scheint, wenig daran, diese Schreibweise auf einen medientechnischen Ursprungsort zurückzuführen. Ohnehin wäre dafür das Format der Collage mit seinen in der Geschichte der Avantgarden des 20. Jahrhunderts breit gefächerten Einsatzweisen und durchaus heterogenen Herkünften eher schlecht geeignet.[65] Im Speziellen zeugt die Rückführung auf ‘Radiophonie’ von einer medientechnischen Blindheit beziehungsweise Kurzsichtigkeit, die das entscheidende Moment, das heißt: die Grundlage dafür übersieht, dass ‘Sprachcollage’, ‘Klangcollage’ und ähnliche nomenklatorische Hybridbildungen mehr sein können als bloß synästhetische Metaphern. Denn wenn überhaupt, dann sind, wie Schönings präzise Fußnote zugleich angibt und versteckt, mit dem (Magnet-)Tonband die “Bedingungen gegeben, das Medium des Augenblicks zu initialisieren, ohne auf den Augenblick angewiesen zu sein.”[66] Die “Entdeckung” des Rundfunks als “Produktionsmittel”, darauf hat bereits Peter M. Ladiges hingewiesen, ist unmittelbar mit der “elektromagnetischen Aufzeichnung” verbunden.[67] Eine an den Cut & paste-Verfahren der Tonband-Kunst ausgerichtete Schreibweise fände allenfalls darin ihren konkreten Grund (der so strukturell allerdings kaum etwas mit der bekannten ökonomischen Bedeutsamkeit der Institution Rundfunk für den erfolgreichen Existenzentwurf des Schriftstellers Hubert Fichte zu tun hat). Unabhängig von allem medientechnischen Determinismus kann indes gerade ein Verzicht auf Inszenierungs- und Darstellungsmöglichkeiten einer Tonbandkunst für die programmatische Medialität hellhörig machen, um die es Fichtes Arbeiten zu tun ist. Das bereits erwähnte, von Ladiges inszenierte Hörspiel San Pedro Claver, in dem die anachronen Passagen des Sklavenhandels mit denen einer Hamburger Touristengruppe zusammengeführt werden, setzt entsprechende Gestaltungsmittel außerordentlich sparsam ein. Claudio Monteverdis L’Incoronazione di Poppea, in Fichtes Lohenstein-Bearbeitung von zentraler dramaturgischer Bedeutung, unterlegt in Abwechslung, teilweise in Montage mit Trommelklängen Szenen des Stücks, in einigen weiteren Szenen werden Halleffekte eingesetzt, darüber hinaus besteht dessen Klangausstattung ausschließlich aus einem metallischen “Klappern” (S 177) sowie unüberhörbar elektronisch generierten Peitschenschlägen – beides in Regieanweisungen des Hörspieltexts eingefordert.[68] Während dieser formale Reduktionismus auf sämtliche Kniffe akustischer Realistik verzichtet und zugleich an keiner Stelle über die Gestaltungsmöglichkeiten des “Vor-Tonband-Radios” hinausgeht, werden musikalische Unterlegung und akustische Skandierung selbst vom Text thematisiert und so Teil einer ‘O-Ton’-Inszenierung, die ähnlich paradox scheint wie die anachronistische Figurenbesetzung:

 

“Pedro:

Laß

mich klappern;

[…]

Stört es Dich

beim Genuß der linden Musik?

 

Manuel:

Es ist etwas Modernes. Es kommt aus Venedig. Und es ist so schön, daß sogar die Patres der Heiligen Inquisition es mit einigen jungen Ketzern einüben, obgleich es die Geschichte einer Kebse in Tönen ausdrückt, die zur Kaiserin gekrönt wird.[69]

 

[…]

 

Der es gemacht hat, heißt Montebeldi.” (S 177f.)

 

Die mediale Programmatik einer Verräumlichung von Zeit wird allerdings dort am besten wahrnehmbar, wo sich das Hörspiel an der Hamburger Touristengruppe die Abläufe des transatlantischen Sklavenhandels nachzustellen anschickt. Das Reenactment-im-Spiel (S 227–233), gedoppelt vom Rollentausch zwischen Pedro und seinem Gehilfen Manuel Biafara – es ist “inbegriffen” in der Pauschalreise, wie der Touristenführer zu erwähnen nicht versäumt (S 218) – setzt ein auf dem Sklavenmarkt von Cartagena, um nach einer analeptischen Überblendung von “Wüste” und “Meer” (S 228), von innerafrikanischer Verschleppung und ‘middle passage’ wieder dort anzukommen. In einer meisterhaften Verdichtung, die beinahe ohne narrative Extensionen auskommt, leistet das Hörspiel eine mehrfache Verräumlichung: Es schreibt die Struktur der Versklavung und Verschleppung und markiert die Spannbreite der Passage afrikanischer Götter und Ritualpraktiken, die sich zwischen identitätsbewahrender Konterbande und verwertungslogischer Zwangsdiätetik erstreckt;[70] aber es benennt auch in einer mise en abyme die Ambivalenz der Beobachtung, die am Ausgangspunkt von Fichtes poetologischer Anthropologie steht: “1. Turistin: / Aber das ist doch nicht der eigentliche Vodounkult. Das ist so ein richtiger Turistenwudu!” (S 233).[71] Ladiges’ kongeniale Inszenierung schließlich trägt in die Hörspielrealisierung selbst das Spannungsverhältnis von typographischer Räumlichkeit und radiophoner Zeitlichkeit ein, indem sie den Darstellern ein strikt typographisches Sprechregime auferlegt, das heißt die Verteilung der Zeilen auf der Seite regelrecht hörbar macht, und auf die Potentiale einer ‘Zeitkunst’, zum Beispiel die mise en scène polyphoner Gleichzeitigkeit an der folgenden Stelle, rigide verzichtet.

 

1. Turist:

Sahara.

 

  1. Turist:

A –

 

  1. Turist:

 

Wa-

 

  1. Turist:

Sahara.

  1. Turist:

Gu.

 

  1. Turist:

Sahara.

 

  1. Turist:

– llah.

 

  1. Turist:

Sahara.

 

  1. Turist:

– sser.

 

  1. Turist:

Sahara.” (S 231)[72]

 

Die Zwangspassagen des transatlantischen Sklavenhandels werden in San Pedro Claver zu einem Struktur-Raum. So vorsichtig man mit solchen Parallelen auch sein sollte: Fichtes mediales Format einer Verräumlichung von Zeit zielt auf einen analytischen Zugewinn, wie ihn Michel Foucault in seiner Widerrede gegen die “Disqualifizierung des Raumes” versprochen hat: “Die verräumlichende Beschreibung diskursiver Tatsachen geht auf die Analyse der mit ihnen verbundenen Machtwirkungen hinaus.”[73] Wenn Foucault in seinem 1967 gehaltenen, aber erst 1984 publizierten Vortrag über die Heteropien darauf hinweist, dass die “Zeit […] wahrscheinlich nur noch als eine der möglichen Verteilungen der über den Raum verteilten Elemente [erscheint] ”,[74] dann entsprechen dem Fichtes Ausführungen beispielsweise zu den “zarte[n] Assemblage[n] ” des Candomblé (AR I, 169) ebenso wie Jäckis Poetik der Schichtung.

 

V.

 

Eine verräumlichende Schreibung diskursiver Tatsachen, von ‘Materialien’, wie sie Fichtes mediale Programmatik anpeilt, ist allerdings analytisch und poietisch zugleich. Sie erlaubt in dieser doppelten Profilierung “die Freiheit, das Diskrepante zu schreiben”. Sie wird auf den beiden verschränkten Szenen von Fichtes Œuvre reflektiert und soll demgemäß für Romane und “Feldstudien” gleichermaßen veranschlagt werden – oder eben einfach dazu, “[e]in schönes Buch zu schreiben”, wie es der Erzähler des Versuchs über die Pubertät sich vornimmt: “Schichten statt Geschichten, Kiesel, Zeitraffer, Zeitlupe, die Uhrzeit verlieren und auch die wiedergefundene Zeit wieder verlieren.”[75] Sie zieht die Konsequenzen aus einer Beobachtung, die Jäcki in Fichtes drittem Roman unter den Stroboskopgewittern des “psychedelischen Schuppens ‘Grünspan’” gemacht hat: “Für das Auge sind die kleinsten Teile von Bewegungen keine Bewegungen, sondern starr.”[76] Die Organisationsform der Wahrnehmung, die Fichtes Poetologie zugrunde liegt, hat damit apriorischen Charakter. Die Verräumlichung von Zeit, auf der die Medialität der Reise basiert, ist wahrnehmungsphysiologisch bedingt.

 

“Ich gehe einen Kilometer in 15 Minuten – etwas mehr, etwas weniger.

Die Laus auf meiner Hand rennt 10 Zentimeter in 15 Sekunden – etwas mehr, etwas weniger.

Ich, einen Meter achtzig hoch, gehe 500mal meine Körpergröße in 15 Minuten. Die Laus, einen Millimeter groß, geht hundertmal ihre Körpergröße in 15 Sekunden, 500mal ihre Körpergröße in 75 Sekunden.

Würde ich eine Strecke 500mal meiner Körpergröße in 75 Sekunden gehen – also einen Kilometer in 75 Sekunden, legte ich in 15 Minuten 12 Kilometer zurück.

Die Laus nimmt ihr Gehen von 10 Zentimetern in 15 Sekunden vor, wie ich meins von einem Kilometer in 15 Minuten.

Läusezeit in bezug zum Raum ist also zwölfmal so groß wie Menschenzeit zum Raum.

Je kleiner die Existenz, desto größer die Zeit.

Das ist nicht Einsteins Relativität bei großen Geschwindigkeiten.

Es ist nicht Bergsons oder Prousts erlebte Zeit.”[77]

 

Selbst die Polemik gegen Levi-Strauss kann für einen Moment pausieren, wenn Fichte in einer Passage der Traurigen Tropen seine auf dieser Grundlage erarbeitete “neuartige Methode des Strukturalismus” wiederzuentdecken glaubt – einen “konzisen Text zu Diachronie und Synchronie”, der eine vom Ordnungsmodell der Geologie motivierte Intervention von Räumlichkeit in Zeiterfahrungen zu postulieren scheint (HL1, 333). Und so wird, am Ende des Romans der Ethnologie, am Ende der dritten Brasilien-Reise des ethnographischen Abenteurers Jäcki, im Nachhinein also, der Ort angegeben werden können, an dem die Forschungen begonnen haben sollten – es ist der Ort, an dem die neuzeitliche Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels ebenso einsetzt wie Jäckis Entdeckung des (schwarzen) Atlantiks:

 

“Irma und Jäcki flogen nach Lissabon.

[…]

Hier hatte alles angefangen.

Die dunklen Massen der Fischer, die stürzten.

Der Gesang beim Einholen der Fische.

Die minoischen Plastiken von Rosa Ramalho.

Die Entdeckung Afrikas, der Seeweg nach Indien.

Die Eroberung Brasiliens und der Pakt mit dem Papst.

In Kolonien.

In den Sklavenhandel.

Nuno Gonçalves.

Die Mauren.

Die Mauern.” (E 842)[78]