Es wäre falsch, das neue Buch von Hubert Fichte mit den Maßstäben eines ethnologischen Forschungs- und Reiseberichts zu messen. Es wäre aber ebenso falsch, das nicht zu tun. Mit diesem Paradoxon ist, so meine ich, in aller Kürze die Ausgangslage gekennzeichnet, in der man sich sieht bei der Beurteilung des Buches von Hubert Fichte. Fichte schreibt über Erfahrungen und Eindrücke, die er in der Beobachtung von afroamerikanischen Riten gesammelt hat. Er folgt jedoch nicht einer so oder so ausgerichteten wissenschaftlichen Methode. Im Appendix des Buches (Abó. Anmerkungen zu den rituellen Pflanzen der afrobrasilianischen Religionsgruppe), der noch am ehesten wissenschaftliche Gewohnheiten zeigt, sagt Fichte: “Was ich weiß, verdanke ich meinem Geschick, dem Zufall und meiner Hartnäckigkeit. Geheimnisse zu verletzen, esoterisches Wissen zu profanieren widerstrebt mir – andrerseits haben alle meine Informanten freiwillig gesprochen, darüber hinaus sickert ein ungenaues Wissen über die rituellen Absude in Bahia durch; die Kenntnis der Veränderung des Menschen durch pflanzliche Stoffe betrifft die Belange unserer ganzen Generation; und schließlich fühle ich mich unweigerlich der Tradition des Wissenwollens und Fragens zugehörig, daß ich eine mögliche Erweiterung unserer Kenntnisse vom Menschen durch atavistische Gefälligkeiten nicht zurückdrängen möchte.”

Das bezieht sich zwar auf einen Einzelaspekt, kann aber ebenso für die Grundeinstellung Hubert Fichtes in Sachen Ethnologie genommen werden. Er hat darüber hinaus niemals einen Hehl daraus gemacht, dass er von den Forschungsmethoden der professionellen Ethnologen im Allgemeinen nicht sehr viel hält; das richtet sich zum Beispiel gegen den Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss. Also Frageverhalten und Erweiterung von Kenntnissen über den Menschen ganz allgemein, anthropologische Neugier, das Beobachtete und Erfahrene aber beschrieben von einem Autor, von einem, und hier müsste man wohl doch das abgebrauchte Wort einmal mit Sinn einsetzen: Dichter? Dichterische Freiheit und Imagination kontra wissenschaftliche Methodik und Trockenheit?

Solche Fragen einfach zu bejahen oder zu verneinen, wäre wiederum zu einfach. Und ich stelle sie auch nur, um noch einmal das Problem, das sich in diesem Buch Hubert Fichtes stellt, im Aufriss zu zeigen. Anders gefragt: sind diese Aufzeichnungen aus drei ganz verschiedenen Zentren des afroamerikanischen Synkretismus (das ist die Vermischung von traditionellen religiösen Formen der Afrikaner mit überlagernden aus christlichem, indianischem, ja indischem Bereich) ein Seitenweg im Werk des Autors Hubert Fichte, oder stehen sie für etwas, das zentral ist? Was interessiert den Verfasser der Romane Die Palette, Detlevs Imitationen “Grünspan”, Versuch über die Pubertät an diesen Riten? Ist das anthropologische Neugierverhalten lediglich ein anderer Aspekt, eine vielleicht vorübergehende Abweichung, oder öffnet sich hier erst eine Perspektive, die auch die anderen Bücher in neuem Licht erscheinen lässt?

Schon das vorletzte Buch Fichtes, Versuch über die Pubertät, beginnt in Brasilien und hat Einschübe mit Szenen und Bildern aus Haiti. Die Erzählung von der eigenen Pubertät (das Autobiografische ist weniger verschoben als im Waisenhaus – seinem frühesten Erzählband – oder in der Palette) ist unterlegt mit Kontrast- und Parallelerzählungen.

Welche Funktion haben die Aufzeichnungen aus Brasilien oder Haiti in diesem Zusammenhang? Wenn die Recherche der eigenen frühen Geschlechtlichkeit, der ersten Verwirrungen der Homosexualität in die unmittelbar personale Erinnerung hinabtaucht, so kommen in den Einschüben des Romans andere, überpersonale Bilder zur Sprache. Ist das der Versuch, eine bisher unerschlossene Schicht zu öffnen?

Diese Frage geht noch immer allzu starr davon aus, dass es die angenommene Einheit des Subjekts tatsächlich und wortwörtlich gibt. War denn nicht deren Durchdringung, deren immer feinere Aufsplitterung in psychologische Motivschattierungen bis an ein Ende geführt worden durch die abendländische Romanliteratur und an diesem Ende, bei James Joyce wie bei Marcel Proust die Frage nach der anderen Realität aufgetaucht, die in der fiktiven Einheit des Ich nicht mehr zu fassen war? Fichte ist, nach seinem bisher vorliegenden Werk zu urteilen, ein Autor, der konsequent in der Nachfolge Prousts den Versuch unternommen hat und weiter unternimmt, die noch unbekannten Schächte des Bergwerks zu erforschen und zu schildern, als das unser wahres Bewusstsein-Unbewusstsein zu sehen wäre.

In diesen Zusammenhang, so scheint mir, ist das neue Buch zu stellen. Die Erfahrung des afroamerikanischen Synkretismus wie die Erlebnisse der fremden exotischen Welt, der unbekannten gesellschaftlichen Strukturen verwandeln sich in Bilder, die wie ein Echo auf das antworten, was in dem Erfahrenden selbst verborgen oder verschüttet war. Ethnologie stellt ein Untergraben des eingeschliffenen Bekannten dar. Umgekehrt kann Hubert Fichte sagen, sein Zugang zu den Fakten und Zusammenhängen ethnologischer und religiöser Erscheinungsformen in den Bereichen, in denen er seine Erfahrungen gesammelt hat (und das gilt über Bahia, Haiti und Trinidad hinaus auch für bestimmte Länder Afrikas), sei unmittelbarer als der vieler Wissenschaftler. Und wenn in dieser Erforschung und Beschreibung von Schichten der inneren Realität des Menschen – eine neue anthropologische Definition abzulesen sei, so sei seine Anthropologie die konkretere, weil poetische.

Nicht Spiegel des erfahrenden geschlossenen fiktiven Ich (das ist die überlieferte Haltung der Reisenden aus dem sich noch autonom glaubenden Abendland) ist das Fremderfahrene, sondern dieses Ich findet sich dort erst wieder, entdeckt sich, indem es sich hingibt, ja aufgibt ins andere. So gelesen, entfaltet sich das Mosaik aus erzählerischen Einzelteilen, das Miteinander der religiösen Erlebnisse, der Teilnahme an fremden Riten, der privaten Begegnungen, der Aufnahme soziologischer Fakten, der Bilder, der Wortketten, der Sprünge und Ausbrüche wie von selbst. Nicht objektiv gegebene Topografie und Chronologie bestimmen den Bericht, sondern die Neu-und Wiederentdeckung des Selbst. “Vor Lautréamont”, sagt Fichte im Haiti-Kapitel, “und C. G. Jung, vor Antonin Artaud und Burroughs, vor Genet, vor Janov, vor Foreman, vor Lil Picard hat der haitianische Vaudou eine surreale Schicht der Sprache, eine Popschicht, mit seinen Litaneien, Götterkatalogen und Tranceperformances eröffnet.”

In solchen Formulierungen (an anderer Stelle spricht Fichte von einer “popartigen Weltumarmung afroamerikanischer Religionen”) lässt sich auch der Bogen schließen bis zurück zur Palette. Etwas anderes kommt noch hinzu. Das zeigt sich zunächst in dem anderen Buch mit dem Titel Xango, dem Fotoband, in dem die Fotografin Leonore Mau auf adäquat großartige Weise die Fichteschen Erkundungsgänge durch Fotos begleitet, unterstützt, hinterlegt.

Es sind nicht Illustrationen. Der äußere Eindruck, es handele sich hier um einen Reisebericht mit beigegebenem Bildband, wäre völlig falsch. Die Fotos werden ihrerseits erst ganz verständlich, wenn man die Einheit sieht. Der zur gleichen Zeit erschienene Fotoband über die Nuba von Kau von Leni Riefenstahl zeigt, im Gegensatz zu den Bildern von Leonore Mau, tatsächlich die mit allen Mitteln technischer Reproduktion unternommene Objektivierung des fremden urtümlichen Gesichts. Im Vergleich erkennt man, wie eng Frau Maus Aufnahmen verflochten sind in den Vorsatz, den das Buch Hubert Fichtes verfolgt. Leonore Mau tritt selber in den Büchern Fichtes in verschiedenen Verwandlungen auf, zuletzt als Irma im Versuch über die Pubertät. Die Verfremdung des Namens zeigt auch den Unterschied zwischen der Brasilienpassage des Romans und der Erzählung des Buches Xango. Als Irma erscheint noch eine teilerfundene Figur, als Leonore in Xango ist es diese auch biografisch fassbare Person. Die Recherche hat unvermitteltere Züge angenommen. Es ist die Sache selbst, der Fichte auf der Spur ist. Der Schleier der Fiktion wird durchbrochen; sicher nicht fallengelassen, denn zukünftige Exkursionen werden ihn gewiss auch wieder benötigen.

Zum jetzigen Stand des “Romans, der im Fluß ist”, wie Fichte gern sagt, gehört aber auch, dass die Mitte des Fotobandes gebildet wird von einem der zentralen Texte, die Hubert Fichte geschrieben hat: Die Rasierklinge und der Hermaphrodit. Darin treten alle thematischen Stränge von Fichtes Prosa wie in einem Brennpunkt zusammen: Homosexualität und Bisexualität, anthropologische und soziologisch-politische Definition, Subjektivität und afroamerikanische Religiosität. Die nach beiden Seiten schneidende Gillette-Klinge ist Metapher für den Schwul-Androgynen, nach beiden Seiten Offenen und überlagert sich mit der doppelschneidigen Streitaxt des Regen- und Donnergottes Xango. Zugespitzt sagt Fichte selber: “Hier wird die formale Information des Anspruchs deutlich. Die doppelte Fehlerhaftigkeit des logischen Gehaltes drückt einmal mehr aus: Hier geht aber auch alles durcheinander. Was es nicht gibt, gibt es doch.”

Es wird aber auch erkennbar, wie stark die Einheitlichkeit des Fichteschen Werks ist. Eine Einheitlichkeit, die vielleicht nirgendwo so klar formuliert worden ist wie im Motto zum Versuch über die Pubertät: “Plötzlich – aber vielleicht vorbereitet durch langsam zur Oberfläche geschwemmtes Material – entdeckte ich, daß alle meine Versuche bisher nur eine Bewegung verrieten: zurückzufinden in frühere Schichten. Ich beschloß, von nun an die Handlungen einzuteilen in magische und vom Magischen abgelöste. (Wobei ich den Begriff des Magischen für meinen Gebrauch etwas umwandelte.) Ich überlegte, ob nicht auch meine Vorstellungen in der Pubertät Ritualisierungen wären, wie die Zeichensprache des Adlerflügler, Schwurgifte und wie das Schminken von Novizen.”