Die Palette

Am Ende des Romans Die Palette, der 1968 zum ersten Mal veröffentlicht worden ist, stößt man auf eine merkwürdige Aufzählung:

Die Fische, die neben dem maurischen Fort verkauft werden, heißen: Toninha, Espada, Chaputa, Enchova, Tamburil, Cabação, Taraco, Tramelga, Choupa, Sargo, Pampos, Pargo, Busso, Tintureira, Pragado, Burreilho, Massacotte, Peixão, Anequim, Gurvina, Lulas, Espardarte, Reia, Polvo. (Palette, S. 344)

Wie kommt es, dass eine Liste von portugiesischen Fischnamen einen Roman ausklingen lässt, der von einer Hamburger Kellerkneipe handelt? Was haben die genannten Fische mit jenen Unangepassten und Ausreißern, Jungintellektuellen und Träumern jeglicher Couleur zu tun, die in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren jenen Ort zu ihrem Treffpunkt machten, sich der amerikanischen Beatnik-Bewegung anschlossen und gegen den bundesrepublikanischen Bürgermief aufbegehrten?

In einer geschickten PR-Aktion hatten Hubert Fichte und sein damaliger Lektor im Rowohlt Verlag, Fritz J. Raddatz, 1966 eine Lesung aus dem damals noch unfertigen Roman im Star-Club auf Sankt Pauli organisiert – an jenem Ort also, der durch einen Auftritt der Beatles bekannt geworden ist. Die Beatles wiederum gehörten mit anderen zu den Musikgruppen, die mit durchschlagender Kraft die Jugend der 1960er Jahre zu den ersten Protestschreien gegen das erdrückende, spießige und ungeheuer satte Wirtschaftswunder-Deutschland hinrissen. Die Palette hält in präziser Weise die Atmosphäre jener ersten Zeit der Popkultur fest, als Pop noch ein Aufschrei war und mithin ein Zeichen für Auflehnung und Widerstand. Konzentriert auf einen Ort, das unscheinbare, etwas heruntergekommene Kellerlokal, das weit über die Stadt Hamburg hinaus bekannt war und im November 1964 endgültig schließen musste, porträtiert der Roman einige ‘Palettianer’, folgt ihren schwierigen, konfliktträchtigen Lebensläufen, hält ihre Einstellungen und Haltungen fest, notiert ihre Sprache, ihren Jargon und ihre Zeichen und legt so – wie in einem Schnitt durch eine Mentalität – das Aufmüpfige jener Zeit frei. Die Palette avancierte nach ihrem Erscheinen denn auch schnell zu einem Kultbuch und schaffte sogar den Sprung in die Bestsellerliste des Spiegel.

Die Fische am Ende des Romans stehen mit einem anderen Ort in Verbindung, der innerhalb des Werks von Hubert Fichte in der Palette zum ersten Mal erscheint: Sesimbra in Portugal – ein Fischerdorf, das etwa eine Autostunde südlich von Lissabon an der Baía de Setúbal liegt. Innerhalb des Romans Die Palette taucht Sesimbra als der Ort auf, an dem der Text entsteht. Allerdings schmückt Fichte die Ebene des inszenierten Erzählens nicht zu einem eigenen Handlungsstrang aus; sie wird nur zu Beginn kurz angedeutet:

Ich sitze in Sesimbra auf den spitzen Felsen.

Ich beobachte, was auf den Strand gespült wird.

Nachts gehen die Fischer zu Taschenlampennuttchen.

Ich nehme Korkstückchen und rundgespülte Fliesen mit aufs Zimmer. Ich fange an zu schreiben, verändre die Namen der Palettianer, tausche Namen aus, denke mir Personen aus zu den Namen. Ich denke – während ein einzelner Fischer im Ruderboot mit gleichmäßigen Schlägen parallel zur Strandlinie entlangtreibt – an die Palette, sehe die Palette in Beziehung zu den Fischern am Strand, zu dem kindsgroßen schwarzen Fisch mit dem türkisfarbenen Glasauge am Strand.

Es ergeben sich Überschneidungen. (Palette, S. 10)

Die Andeutungen, die in den ersten Sätzen gemacht werden, erschließen sich erst in dem Roman Eine Glückliche Liebe. In der Palette bleibt Sesimbra nur angerissen, ein vager Hintergrund, der sich gegenüber dem erzählten Geschehen in Hamburg abhebt Auch im weiteren Verlauf des Romans taucht Sesimbra immer nur blitzartig auf. Gegen Ende werden die Verweise wieder etwas dichter, und an einer Stelle heißt es knapp: Die Palette ist alles: Sesimbra und die Palette. (Palette, S. 345) Da Sesimbra vor allem am Anfang und am Ende erscheint, rahmt dieser andere Ort den Roman. Tatsächlich haben sich Leonore Mau und Hubert Fichte im Jahr 1964 jedoch nur knapp drei Monate in Sesimbra aufgehalten – und damit genau in jener Zeit, als das Lokal endgültig geschlossen wurde. Fichte hat in dieser Zeit – neben der Korrektur der Druckfahnen des Waisenhauses und der Lektüre von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – auch erste Entwürfe für seinen Roman angefertigt, die Ausarbeitung zog sich dann jedoch noch drei weitere Jahre hin. Dennoch entsteht im Roman die Illusion, der gesamte Text sei in Sesimbra entstanden. Es handelt sich also lediglich um einen fingierten Rahmen, was dessen Funktion jedoch nicht schmälert.

Durch diesen Rahmen entsteht ein Beziehungsgefüge zwischen der Kneipe in Hamburg und dem Fischerdorf in Portugal. Orte sind, so lässt sich die Funktion des Rahmens beschreiben, immer verbunden mit anderen Orten – durch denjenigen, der sie erlebt und der über sie schreibt. Die Überschneidungen, die sich ergeben, finden im Kopf des Erlebenden und Schreibenden statt: einerseits die Erinnerung an die Palette, das Nachdenken darüber und die Suche nach einer Form der sprachlichen Darstellung und andererseits die aktuellen Wahrnehmungen in dem Fischerdorf, das Beobachten der Fischer und ihrer Arbeit – zwei Ebenen, zwei Zeiten, die sich überlagern, bedingt durch die Ungleichzeitigkeit von Leben und Schreiben, in das sich immer neues Leben drängt und das Schreiben beeinflusst. Orte, so ergibt sich daraus, sind nicht als in sich abgeschlossene Gebilde zu begreifen, sondern immer offen, eingebunden in ein Netz mit anderen Orten. So ist es auch Sesimbra und der Erlebnishorizont von Portugal – und ausdrücklich nicht der von Hamburg –, der eine poetologische Metapher für den Roman liefert:

Meine Palette soll nicht die Form eines Palais haben. Auf meiner Palette werden nicht die Farben um das Daumenloch angeordnet. [Über dem Eingang des Kellerlokals hing eine Mal­Palette als Emblem.]

Verschieden sorgfältige Mischungen. Orange kleckert aus.

Blaue Streifen.

Meine Palette soll die Form eines Tintenfisches haben. […] Vorne ein gleichmäßiger Körper, an dem sich Fangarme entwickeln, die nach hinten auffächern. (Palette, S. 343)

 

Eine Glückliche Liebe

Was sich hinter den knappen Andeutungen auf Sesimbra in der Palette verbirgt, wird erst in dem Roman Eine Glückliche Liebe deutlich. In diesem, der Zählung nach vierten Band aus der Geschichte der Empfindlichkeit, den Hubert Fichte 1984 abgeschlossen hat, wählt er für das Fischerdorf die ältere Schreibweise Cezimbra. Bereits im ersten Kapitel werden die spitzen Felsen, die Beobachtungen dessen, was an den Strand gespült wird, und die Taschenlampennuttchen näher ausgeführt.

Lava.

Feuerfontainen.

Raus aus spellenden Schlacken, Tausenden von Graden, kilometertief, hellflüssig in die Kälte des Anfangs, dachte Jäcki.

(Liebe, S. 7)

So lauten die ersten Sätze, die sich wie der Beginn einer Naturgeschichte lesen. Die Landschaft, die das Fischerdorf umgibt, lässt Jäcki an einen Vulkanausbruch denken und erscheint mithin als eine aktive, kraftvolle Natur, in der die Spuren ihrer eruptiven, vulkanischen Entstehung erstarrt sind. Von kantigen Felsen, schroffen Kliffs und Spalten ist auch auf den folgenden Seiten mehrfach die Rede. Die Landschaft erhält so Züge einer Urlandschaft, in der das Element des Steinernen überwiegt, ohne Bäume, Sträucher oder Wiesen, und der einzig das Meer gegenüberliegt. Ein Fels, der die Form einer auf dem Kopf stehenden Pyramide besitzt, dient Jäcki als Ort, von dem aus er das Meer, den Strand und in der Ferne das Fischerdorf beobachten kann.

Jäcki hangelte sich auf die Plattform und sah übers Meer.

Jeden Tag andre Anschwemmsel unten.

Gestern Teufelsrocheneier.

Oder barocke, winzige Muscheln. […]

Eine Flaschenpost.

Graugewaschene Kisten, graue Eierhölzer, grauer Kork.

Der zerrissene Bug eines Fischerbootes. (Liebe, S. 7)

Es ist eine zufällige, immer wieder überraschende Ordnung, die sich am Strand ergibt, wo sich Meer und Land berühren, die in immer wieder neuen Mustern eine Ästhetik des Meeressaumes ausbilden. Natur und Kultur stellen keinen Kontrast dar, sondern gehen eine Symbiose ein, in der alles möglich ist. In der Dämmerung wird Jäcki schließlich Zeuge eines merkwürdigen Vorkommnisses am Strand – eine wiederum geradezu archaisch anmutende Szene kollektiver Sexualität. Lichtzeichen einer Taschenlampe bestimmen den Rhythmus. In einer Felsspalte hat eine Prostituierte ihr Lager aufgeschlagen. Die Fischer aus Sesimbra stehen Schlange:

Drinnen im Kliff lag die dicke Frau in den Tüchern auf dem Rücken.

Jäcki sah zwei helle Schenkel, und rechts und links hingen die Brüste unter dem hochgerissenen Pullover heraus.

Der nächste Fischer rückte vor.

Die dicke Frau knipste die Taschenlampe aus.

Sie knipste die Taschenlampe wieder an.

Sie hob den Kopf.

Der Fischer stand auf und warf ein Stück Zeitungspapier weg.

Der nächste Fischer fiel herunter, reichte etwas ins Licht der Taschenlampe.

Die Frau ergriff den Geldschein.

Ihr Kopf sank zurück.

Sie hielt sich das Geld vor die Augen und knipste die Taschenlampe aus. (Liebe, S. 10)

Die Taschenlampennuttchen aus der Palette haben sich zu einer einzigen, dicken Frau verdichtet, die im schummrigen Licht der Dämmerung ganz mit der urtümlichen Landschaft verschmilzt Sie geht geradezu in den sandigen Erdboden ein, während die schroffen Klippen ihr Geschlecht ins Überdimensionale steigern. So verwandelt sie sich in eine ‘Urmutter’ nach dem Vorbild der afro-brasilianischen Göttin Nanã. Ihr stehen die Fischer gegenüber, die als Individuen vollständig in der Schlange der Vorrückenden aufgehen, die als Bild unweigerlich an einen riesigen Phallus erinnert, der Stück für Stück in die Spalte zwischen den Felsen eindringt. Erneut gewinnt die bizarre Szene den Charakter eines Ursprungsszenarios, hier in Form eines rituell inszenierten Schöpfungsmythos.

Von fern erinnert diese rituelle Anordnung an eine kleine Serie von Fotografien, die sich am Ende des Foto-Text-Bandes Psyche. Annäherung an die Geisteskranken in Afrika findet. Sie trägt den Titel: Der seltsame Ritus in Atakpamé. Ein Mann sitzt auf einem Schemel inmitten eines auf den Boden gemalten Kreidezeichens; daraufhin setzt sich ihm ein Mann auf den Schoß, daraufhin noch einer und noch einer, bald auch einmal eine Frau – bis sie eine lange Reihe von 30 bis 40 Menschen bilden. Der Ritus ist – der knappen Beschreibung am Ende des Buches nach – sexuell aufgeladen und von allerlei anzüglichen Gesten begleitet. Wiederum kann man in der Schlange einen riesigen Phallus sehen.

Was Jäcki am Strand von Sesimbra beobachtet, weckt in ihm die Phantasie: Einmal Nutte in Cezimbra sein! Als Jäcki sie Irma gegenüber äußert, kontert diese nur äußerst knapp: Ich denke, du läßt dich nicht. (Liebe, S. 11) Damit wird der Roman Eine Glückliche Liebe auf sein Ende bezogen, als sich Jäckis Phantasie einlöst. Dazwischen liegt die langsame Entwicklung der ‘Entjungferung’ Jäckis am Arsch – oder, wie es in Portugal hieße, sein Weg von einem Activo zu einem Passivo. Eine Glückliche Liebe endet in Paris, in einer Schwulen-Sauna in der Rue de Penthièvre. Irma und Jäcki befinden sich auf der Rückreise nach Hamburg. Die Adresse der Sauna stammt von einem Freund aus der Palette. Jäcki sucht die Sauna auf. Er trifft dort vor allem auf alte Franzosen und junge Araber. Hier nun passiert es. Ein junger Araber macht sich an Jäcki, der sich anfangs noch wehrt, heran:

Der Araber drängelte, biß, spuckte, kitzelte mit dem Finger, hängte seinen Umhang über den Steifen und schob Jäckis Umhang hoch.

Jäcki schrie.

Jäcki hatte die Vorstellung, er sollte ausgeweidet werden.

Zugleich mischt sich einer der älteren Franzosen ein und beginnt, an Jäckis Glied zu lutschen. Jäcki erlebt in dieser Doppelstellung ein neues erotisches Gefühl und entdeckt eine neue Lustzone seines Körpers:

Jäcki merkte, wie seine Empfindungen von einem Ort zu einem anderen geschwemmt wurden, sosehr der geschulte Mund des greisen Schauspielers an ihm auch saugte.

Jäcki hatte das Gefühl, doppelt zu existieren.

Jäcki kam sich wie eine Hohlform vor, die ihn selbst noch einmal wahrnahm.

Als er merkte, daß der dürre Araber in ihm zu zucken begann, zuckte er auch auf im Mund des Théâtre Molière. (Liebe, S. 107)

Anders als in Hotel Garni, als Jäcki das erste Mal in einen Mann eindringt, wird hier nicht einfach die entsprechende inverse Erfahrung geschildert. Bezeichnend ist vielmehr, dass zwei sexuelle Praktiken zugleich stattfinden, die Jäcki das Gefühl geben, doppelt zu existieren. Nicht: das eine oder das andere, sondern: sowohl … als auch …; beides gleichzeitig. Sich nicht entscheiden zu müssen, keinem den Vorrang einzuräumen, sich nicht festzulegen – stattdessen die Bewegung des Hin und Her, das Oszillieren zwischen den Polen: Das ist Fichtes sanftes Gesetz – das ist, was er über die herkömmliche Bedeutung hinaus als Bisexualität bezeichnet. In aller Offenheit ist es hier an sexuelle Praktiken, an den Körper und die Lust gebunden – und die Dreierkonstellation in der Sauna verdichtet sich einmal mehr zu einem Bild, das über die unmittelbar beschriebene Szene hinausdrängt.

Zugleich besitzt der Begriff der Bisexualität bei Hubert Fichte immer auch den Charakter einer grundlegenden, transgressiven Denkfigur. Dies erweist sich, wenn man eine zunächst unscheinbar wirkende Passage aus dem zweiten Kapitel des Romans genauer betrachtet. Irma und Jäcki sitzen im Restaurant Ribamar. Der Kellner versucht ihnen mit Handzeichen zu erklären, was sich hinter dem Gericht Carne Alentejana verbirgt:

Der Fischer machte mit der Hand die Geste: Weder Fisch noch Fleisch.

Jäcki verstand genau, es sollte nicht bedeuten: Das taugt heute nichts.

Vielleicht hieß es auch: Fisch und Fleisch.

– Carne Alentejana, sagte Jäcki. (Liebe, S. 12/13)

Die Verbindung zur Bisexualität als Denkfigur stiftet Jäcki kurze Zeit später, als das Gericht serviert ist und er es ausdrücklich ein bisexuelles Gericht nennt. (Liebe, S. 14) Alltagssprachlich wird die Wendung ‘weder Fisch noch Fleisch’ abwertend gebraucht, um etwas zu bezeichnen, das nichts taugt. Gerade dieses Verständnis wird von Jäcki jedoch sofort zurückgewiesen. Aber auch ein ganz wörtliches Verständnis in dem Sinn, dass es sich um ein vegetarisches Gericht handelt, wird sogleich durch Jäckis weitere Überlegung ausgeschlossen. Vielleicht heißt es ja auch, denkt er, Fisch und Fleisch. Obwohl damit jede Klarheit beseitigt ist, bestellt Jäcki ohne weitere Rückfragen das Essen und bejaht damit das Konzept, um das es hier geht. Seine paradoxale Struktur lässt sich exakt aus Jäckis Entzifferungsversuchen der Handzeichen des Kellners gewinnen. Sie ist zu beschreiben als: weder … noch …, und zugleich als: sowohl … als auch … – beides zugleich. Konkret zurückbezogen auf die Sexualität Jäckis bedeutet dies gemäß unserer kulturell normativen Dichotomie von ‘heterosexuell’ und ‘homosexuell’: Jäcki ist weder homosexuell noch heterosexuell, und er ist zugleich homosexuell und heterosexuell. Sieht man von diesem konkreten sexuellen Bezug ab, gewinnt man daraus aber auch die allgemeine Struktur des ‘Bi’ bei Hubert Fichte – sein Ort dazwischen. Dann wird daraus eine Haltung, ein Konzept, eine Weise des Denkens und Darstellens, die sich von der sexuellen Praxis ablöst und von ihr nur noch die dazu notwendige ‘Empfindlichkeit’ einbehält.

Der Ort ‘dazwischen’ wird im Roman Eine Glückliche Liebe noch einmal geographisch gespiegelt. Jäckis Entdeckung seiner vollen sexuellen Möglichkeiten steht im Erfahrungshorizont von Portugal. Das Land, am Rand von Europa gelegen, habe sich nie zwischen Afrika und Europa entscheiden können und sei in hohem Maß durch seine Bikontinentalität geprägt – das behauptet der brasilianische Soziologe Gilberto Freyre in seiner großen, in den 1920er Jahren entstandenen Studie Herrenhaus und Sklavenhütte, in der er für Brasilien eine auf der Vielfalt und Vermischung der Kulturen basierende eigene Identität entworfen hat. In diesen Entwurf passt es gut, dass selbst die ehemalige Kolonialmacht Portugal eine synkretistische Kultur bildet. Freyre geht sogar so weit, aus der bikontinentalen geographischen Lage Portugals eine bisexuelle Veranlagung der Portugiesen abzuleiten. Diese Idee hat Hubert Fichte aufgegriffen – allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt in Zusammenhang mit seiner intensiven Beschäftigung mit Brasilien. Die Verankerung der Idee einer Entsprechung von Bikontinentalität und Bisexualität in Eine Glückliche Liebe stammt also wiederum aus der Zeit der Niederschrift des Romans und ist eine spätere Zuschreibung. Fichtes Fassung des Begriffs Bisexualität jedenfalls geht über die Bezeichnung einer offenen sexuellen Orientierung hinaus; sie ist ebenso eine Chiffre, eine Denkfigur für einen Raum dazwischen, eine bewegliche Sphäre des Dritten. In diesem Raum hat Fichte auch, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, seine Darstellung der afro-amerikanischen Religionen angesiedelt.

Unmittelbar nach der neuen Erfahrung in der Pariser Sauna muss Jäcki an den Anfang der Reise nach Portugal denken, an seine Beobachtungen am Strand, seine Nutten-Phantasie, an Irma – und damit schließt sich der Kreis:

– Ich denke, du läßt dich nicht, hatte Irma angemerkt.

– Jetzt lasse ich mich.

Es schien Jäcki die einzige Veränderung zu sein, außer der Geburt, welche die Natur hergab.

Das war das ganz Andre.

Jetzt wußte Jäcki, daß er enden würde wie ein Schmerzensgreis der Witwe Rosa mit oblatenfarbenem Fleisch.

Jäcki verwandelte sich noch einmal. (Liebe, S. 108)

Nicht nur Irmas Reaktion, auch das Motiv der Geburt führen zurück an den Anfang des Romans – in jene ursprüngliche Landschaft. Es sind vor allem Bilder aus der Erdgeschichte, die Fichte hierfür bemüht. Sie stehen für eine Zeit und einen Zustand vor aller kulturellen Ordnung. Denn Kulturen haben sich die Natur nicht nur in materieller Hinsicht untertan gemacht, sondern auch in begrifflicher. Sie bedienen sich oftmals der Kategorie der Natürlichkeit, um ihre Normen durchzusetzen. Schwule Sexualität, beschrieben als das ganz Andre der kulturellen Ordnung, verkehrt und unterläuft diese Ordnungen und die vermeintlich ‘natürliche’ Heterosexualität. Sie reicht in jene ältesten Schichten vor aller Kultur zurück. Diese pathetische und zugleich selbstbewusst-trotzige Aufladung der Homosexualität und ihre die kulturellen Normen umkehrende Zuschreibung als etwas ‘Natürliches’ und ‘Ursprüngliches’ findet in vielen der späten Bücher von Hubert Fichte statt. Sie ist in dem Roman Der Platz der Gehenkten enthalten, in dem Fichte gegen die homosexuellenfeindliche Tradition des Islam anschreibt. In Explosion wird es am Ende sogar heißen: Das Iris – gemeint ist damit ein schwules Kino in Brasilien, das zugleich für alle Spielarten des homosexuellen Begehrens steht – war älter als Ebbe und Flut. (Explosion, S. 847)

Eine Glückliche Liebe jedoch erschöpft sich nicht in einer literarischen Gestaltung der Sexualität Jäckis. Zugleich erkundet er auch die Situation der Homosexuellen in Portugal unter dem Diktator António de Oliveira Salazar und stellt so auch eine Art politischer Dokumentation dar. Das betrifft die Subkultur der Schwulen in Lissabon, wohin Jäcki gelegentlich Ausflüge unternimmt, ebenso wie die Situation auf dem Land, in Sesimbra und in anderen Dörfern und kleinen Städten. Überall lauern Spitzel, besteht die Gefahr, entdeckt und der Polizei ausgeliefert zu werden. Besonders drastisch jedoch ist das Schicksal Joãos, das der Roman festhält.

– Zwei Männer hatten jahrelang in Povoa de Varzim was miteinander.

– Eines Tages – vor einer Woche etwa – beobachtete der Onkel des Passivo, des Negativo, wie sie sagen, als der Activo und der Passivo es im Walde trieben.

– Im Städtchen, am Nachmittag beim Markt, nimmt der Onkel den Neffen, den Passivo, beiseite.

– Sechs Männer fesseln den jungen Mann.

– Er wird zum Aufblasen getragen. […]

– Das ganze Dorf hinterher, João wird zum Aufblasen getragen, weil er Marica ist. […]

– João wird zum Aufblasen in die Tankstelle getragen, weil er Marica ist.

– Der Onkel steckt dem gefesselten João selbst den Preßluftschlauch hinten rein, und João wird aufgeblasen, weil er Marica ist, bis er verblutete. (Liebe, S. 60)

Irma und ihre Kunst

Während Jäckis sexuelle Streifzüge und der Weg zu seiner vollen Sexualität im Roman Eine Glückliche Liebe breit geschildert werden, bleiben die Reaktionen seiner Partnerin Irma weitgehend ausgespart. Der Roman verhält sich ihr gegenüber sehr diskret, zeichnet aber in den wenigen geschilderten Situationen ein durchaus starkes Bild von ihr. Als sie wieder einmal beim Essen im Restaurant Ribamar sitzen und Jäcki ihr von einer sexuellen Begegnung mit einem Fischer erzählt, für die er, wie meistens, gezahlt hat, antwortet sie:

– Ich muß ja nicht alles verstehen, sagte Irma.

– Das ist ein Vorwurf.

– Nein. Ich kann nicht verstehen, daß man dafür Geld will. Ich kann nicht verstehen, daß man von einem zum anderen wechselt. (Liebe, S. 36/37)

Als Jäcki ihr ein anderes Mal gesteht, dass er einen Freund habe, Mario, versucht er ihr eine Reaktion zu entlocken:

– Warum redest du nicht?

– Warum sagst du nicht: Es dauert ja doch nicht lange?

– Warum sagst du nicht: Nach einem Monat langweilt es dich doch sowieso?

– Warum sagst du nicht: Dann sitzt du allein im Ribamar und ißt deine Fischaugen?

– Der einzelne ältere Herr, der was vom Essen versteht?

– Mit Strichjungen geht man nicht ins Ribamar?

– Warum sagst du das nicht? (Liebe, S. 93)

Jäcki redet auf Irma ein, aber sie lässt sich nicht provozieren, bleibt ruhig, schweigt. Was Jäckis Redeschwall nur noch steigert, bis er ihr sogar Tyrannei der Sanftmut vorwirft. Aber Irma, so scheint es, akzeptiert Jäcki, so wie er ist. Sie zeigt sich nicht verletzt oder gekränkt, geht frei damit um, stellt keine Besitzansprüche. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der Roman im Jahr 1964 spielt – als Homosexualität in Deutschland noch strafrechtlich verfolgt wurde und in Portugal sogar Gefängnis und Folter drohte. Auch stellt Irma es im weiteren Fortgang ihres Gesprächs Jäcki frei, mit Mario essen zu gehen. Ja sie macht sogar den Vorschlag, er solle Mario mit nach Hamburg nehmen. Aber das geht ihm dann doch zu weit. Und Irma beendet das Gespräch: Ich bin nicht so schwach, wie du denkst, sagte Irma. (Liebe, S. 95)

So behutsam der Roman also die unmittelbare Auseinandersetzung um die Sexualität zeichnet, umso heftiger und polemischer fallen dagegen die Gespräche und Reflexionen zwischen Irma und Jäcki aus, die um ihre jeweiligen Künste kreisen. Manchmal entsteht der Eindruck, als würden auf dieser Ebene stellvertretend jene Emotionen wach, die beim Thema Sexualität unterdrückt werden. Darüber hinaus stoßen zwei ganz unterschiedliche Arten der Wahrnehmung des Fischerdorfes aufeinander. Jäcki sieht in Sesimbra und seiner Umgebung eine Urlandschaft, die für ihn homosexuell aufgeladen ist. Als er jedoch zusammen mit Irma zu einem gemeinsamen Spaziergang durch das Fischerdorf aufbricht – wieder bedient sich Fichte des narrativen Musters einer gemeinsamen Besichtigung des Ortes – und dabei durch einen Weitwinkelsucher blickt, sieht er für einen Moment mit dem Auge der Kamera und erfährt so die Wahrnehmung der Fotografie: das abbildgenaue Registrieren dessen, was sichtbar ist:

Jäcki setzte den Weitwinkelsucher ans Auge.

In ein Bild von der Ausdehnung einer Erinnerungsbriefmarke kippte jetzt alles herein:

Der Lavahügel, die Spitzel, das Hotel, die Fische in Mustern, mit allen ihren Namen, die Flotte, der Schuhputzerthron, die schwarzen flatternden Tücher, die Spalten des Kliffs und Phyllis Smith und hinten in der Mitte sogar noch ganz scharf die Werften, die Betonkuben des Hotelneubaus, die Schiffsruine, der Depp mit dem Fisch.

– Da hast du jetzt alles auf einen Dudd. Ohne syntaktische Schwierigkeiten und ohne Spondeus und ohne Adjektive und V-Effekt. Cezimbra wie es ist. Ganz. Klick. Fertig. Die ganze Geschichte in einer tausendstel Sekunde. Die Welt als reines Bild. Das ist die wahre Kunst. Nichts weiter mehr als ein Apparat. (Liebe, S. 28)

Die Weise, wie der Blick und die Reaktion Jäckis beschrieben sind, drückt die visuelle Evidenz einer Fotografie aus. Simultan ist alles erfasst – ganz Sesimbra –, was sprachlich nur sukzessiv wiedergegeben werden kann. Vor allem aber ist das Dorf unverfälscht eingefangen, ganz so, wie es sich in seiner Sichtbarkeit zeigt. Die Welt als reines Bild. Das ist die wahre Kunst – dieser Satz, so ernüchternd er innerhalb des Dialogs von Jäcki gemeint sein mag, enthält auch eine Kehrseite. Er drückt eine ideale dokumentarische Darstellung aus, in der die jeweiligen Eigenheiten und Grenzen des Mediums überwunden sind. Für Jäcki erfüllt die mechanische Apparatur der Kamera genau dieses Ideal, indem sie zum Medium einer ‘reinen’ Weltwahrnehmung wird – ein Ideal, das er insgeheim auch durch seine Kunst, das Schreiben, zu erreichen versucht: ein punktuelles, augenblickliches Erfassen – mit wenigen Worten ein Ereignis, eine Szene, eine Welt in inneren Vorstellungsbildern entstehen zu lassen.

Doch Irma hält dagegen:

– Dann könnte ich ja alle meine Objektive ins Wasser schmeißen.

– Das kannst du auch. Eine Kamera soll in einem Augenblick ein scharfes Bild herstellen. Es ist Kunst, weil es überhaupt keine Kunst ist, weil es immer in jedem Augenblick Kunst ist. Meine Wörter – die kannst du vergessen. […]

– Deine Fischer, dein Berg, deine Spalte, verloren, wie Brösel in einem großen beliebigen Salat. Nur wenn ich in diesem Augenblick dies eine Tele nehme, wird es ein Foto. Ich löse mir das Foto raus.

– Es ist schon vorbei, weil du das falsche Objektiv in der Kamera hattest. Rauslösen kannst du es auch in Hamburg.

– Eben nicht. Ich mache das Foto, wenn ich es mache. Was soll ich mit den ganzen Abständen. Mit dem Tele klebe ich das Schiff an den Berg, den Deppen an das Schiff und den Fisch an den Deppen.

– Das glaub ich nicht.

– Das ist mein Cezimbra. Wie ich es sehe. Das kannst du mir glauben.

– Mit dem Tele. Das heißt ja dann doch wieder Auffassung, Verwandlung. Synthese. Proust. Die eleganten Flocken von Professor Höllerers Frau, Frau von Mangold. Die Kunst ist die Welt. Nicht: Die Welt ist gleich das Bild, ist gleich dem Bild. Ausschnitte, das kann ich auch. Ranholen. Ich werde nie Fotograf. (Liebe, S. 28/29)

Sieht Jäcki in der Apparatur der Kamera, die im Augenblick der Aufnahme rein mechanisch funktioniert, ohne dass der Fotograf eingreifen könnte, den Garanten für eine Kunst, die sich der Welt unterordnet und sie zur Erscheinung bringt, so hebt lrma auf all jene Prozesse ab, die dem Moment des Auslösens vorangehen und ihn zu einem bewussten Akt machen: die gerichtete Wahrnehmung, bestimmt von der Suche nach möglichen Motiven, dann, wenn sich Elemente zusammenfügen, ein mentales Bild, das sich zuerst einstellt, und schließlich die technische Umsetzung durch die Wahl des richtigen Objektivs und des entscheidenden Augenblicks auf der Grundlage handwerklichen Geschicks. Für lrma ist die Kamera lediglich ein Hilfsmittel, dessen sie sich bedient – wie die Schreibmaschine für Jäcki. Die Fotografien, die am Ende eines langen Prozesses stehen, zeigen für Irma nicht Sesimbra, wie es ist, sondern ihr Sesimbra, wie sie es gesehen hat. Damit jedoch schiebt sich für Jäcki wieder die Kunst mit ihren je eigenen, medialen Gesetzmäßigkeiten vor die Welt: Die Kunst ist die Welt, resümiert er fast resigniert. An dieser Stelle fallen die Namen von Renate von Mangold und Walter Höllerer – ein Hinweis auf das Interview in Die Zweite Schuld und besonders auf die Fragen nach dem Verhältnis von Zusammenarbeit und Konkurrenz.

Bei aller vordergründigen Polemik, die den Disput bestimmt, besitzt lrmas Kunst für den Schriftsteller Jäcki etwas zutiefst Unheimliches, das ihn zugleich bedroht und fasziniert Es manifestiert sich in jenen unsichtbaren, sich entziehenden Prozessen, die nach dem Betätigen des Auslösers in der Apparatur ablaufen, ohne dass die menschliche Hand noch eingreift, und die – in seinen Augen – als Ergebnis zu einer ‘reinen’ Weltwahrnehmung führen. Bedrohlich und faszinierend wirken sie, weil sie seinem eigenen künstlerischen Ideal nahe rücken und noch offen bleibt, ob er dem anderen Medium vielleicht sogar unterlegen ist. Irma fühlt sich durch diese Besetzung ihres Mediums in die Defensive gedrängt und sowohl in ihrer Kreativität als auch in ihrem handwerklichen Können missachtet. Selbstbewusst setzt sie ihre künstlerische Subjektivität dagegen. Die Spannung, die daraus resultiert, löst sich nur für Augenblicke. Ein solcher Augenblick bildet den versöhnlichen Abschluss ihres gemeinsamen Spaziergangs durch Sesimbra:

Dann der Augenblick, wo Jäcki Irma nicht mehr anstieß.

Irma ihm gleich das kleine Tele herüberreichte und er ohne zu zögern den kleinen Weitwinkel herausgab.

Irmas Auge starr, wie der Glaskörper des Weitwinkelsuchers.

Metallrosetten zucken auf, schließen sich genau nach dem Bruchteil einer Sekunde.

Die drei weißen Nonnen vor der gekalkten Wand mit silbrigen Schellfischen auf dem Kopf waren schon vorüber. (Liebe, S. 29)

Kein Disput mehr, stattdessen ein stilles Einverständnis. Jäcki assistiert reibungslos. Irma arbeitet konzentriert und entscheidet schnell. Ihr Auge und der Sucher der Kamera gleichen sich einander an. Sie übersetzt ihre Wahrnehmung in die Präzision der Kamera. Als der Auslöser betätigt, der Film belichtet ist und Irma die Kamera wieder absetzt, existiert das Motiv schon nicht mehr – es wäre nicht zu wiederholen.

Die blaue Tür

Der Roman Eine Glückliche Liebe schildert nicht zuletzt die Schwierigkeiten des Anfangs der gemeinsamen Arbeit zwischen Irma und Jäcki. Den geglückten Momenten, in denen sie sich gegenseitig zur Hand gehen, stehen jene gegenüber, in denen Jäcki seinen eigenen sprachlichen Zugriff zu verlieren droht – ein konfliktreicher Lernprozess und eine nicht immer einfache, gegenseitige Annäherung. Auf einer Wanderung in der Umgebung von Sesimbra stoßen Irma und Jäcki auf einen Geräteschuppen mit einer blauen Tür. Für Jäcki ist es ein zufälliger Fund – ein objet trouvé –, wie die ganz verschiedenen Dinge, die jeden Tag an den Strand gespült werden. Auf die Tür sind Stücke von Korkeichenrinde genagelt; der Türrahmen ist weiß gekalkt, die Tür selbst blau bemalt. Kein Kunstwerk, aber Ausdruck des ästhetischen Empfindens eines portugiesischen Fischers:

Sie wußten nicht, was sie sahen.

Jäcki fing an, mit Irmas Objektiven zu sehen.

Er suchte schon in der Fototasche herum, ehe er wahrgenommen hatte, was sich da vor ihm befand.

Abgeblättert.

Gestrichen.

Verwittert.

Abgewaschen.

Überstrichen

Verblichen.

Wirr.

Blaue Adern.

Der Fischer hatte Korkstücke unregelmäßig auf die blaue Tür

der Remise genagelt.

Handtellergroße Korkstücke.

Rinde.

Groß wie ein Gesicht.

Arme, Schenkel.

Die rissige Haut der Korkeichen.

Im Blauen.

– Yves Klein.

– Action Painting. (Liebe, S. 82/83)

 Vorauseilend bewegt sich Jäcki in der Wahrnehmung der Fotografie, noch bevor er selbst wahrgenommen hat. Im Text wird diese tastende Wahrnehmung nachgeholt. Eine Reibe von Adjektiven evoziert das Aussehen der Tür. Als Irma die Tür fotografieren will, mischt sich Jäcki erneut ein:

– Kleiner Weitwinkel, würde ich sagen, sagte Jäcki.

– Großes Teleobjektiv, sagte Irma:

– Sonst muß ich zu nahe ran und die Linien kippen und alles läuft auseinander.

Jäcki verstand das nicht:

– Ich sehe nicht ein, warum man ein Gesicht aus der Nähe mit dem kleinen Weitwinkel fotografieren kann und keine Korkeichen wie ein Gesicht.

– Man muß es ausprobieren, wenn man darüber reden will.

– Ich will es nicht ausprobieren.

– Warum nicht?

– Ich will nicht fotografieren. Ich bin total unbegabt. Ich würde das Schreiben an den Nagel hängen. (Liebe, S. 83)

 Das menschliche Auge und das Auge der Kamera werden von unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten dirigiert. Diese Einsicht hat Jäcki bereits gewonnen. Doch der Erfahrung Irmas ist Jäcki nicht gewachsen, die Feinheiten sind ihm – noch – verborgen. Irma weiß, welches Objektiv sie wählen muss, um optische Verzerrungen wie fallende Linien zu vermeiden. Aber auch sie stößt an ihre Grenzen, scheitert an der Schnelligkeit, die notwendig ist, oder an der immer wieder mangelhaften Ausrüstung:

– Außerdem hab ich keinen Farbfilm drin, sagte Irma.

– O, sagte Jäcki:

– Es scheint das Wesen eines Lichtbildners auszumachen, wenn er das richtige Objektiv drin hat, hat er den falschen Film.

– Lichtbildner! sagte Irma:

– Bei der schlechten Beleuchtung hat Farbe sowieso keinen Sinn.

– Schlechte Beleuchtung – strahlendes Wetter.

– Alles kriegt einen blauen Stich, und deine Wundertür sieht aus wie ein Frottierhandtuch. (Liebe, S. 83/84)

 Zwischen die wahrgenommene Tür und ihre Darstellung schieben sich die Gesetze des Mediums, seien es die der Fotografie oder die des Schreibens. Beide bleiben hinter der sinnlichen Wahrnehmung zurück – auch das fotografische Abbild in seiner Genauigkeit Das ist die Lektion der blauen Tür. Denn ihr Blau, Auslöser der überwältigenden, ästhetischen Erfahrung, ist auf dem Schwarz-Weiß-Bild verschwunden. Weder die Fotografie noch das Schreiben können die Präsenz der Farbe in ihrer unmittelbaren Wirkung wiedergeben. Beide können sich ihr nur nach ihren je eigenen Möglichkeiten annähern: der Text, indem er die tastende Wahrnehmung Jäckis und dessen Assoziationen im Kopf festhält, und die Fotografie, indem sie durch die Abstufung der Grauwerte das Blau erahnen lässt.

  

Der Fischmarkt und die Fische

Innerhalb der Geschichte der Empfindlichkeit markiert die blaue Tür in der Nähe von Sesimbra den Ausgangspunkt des gemeinsamen Projekts der Fotografin Irma und des Schriftstellers Jäcki. Hier, am Rand von Europa, vor der Tür eines Fischers, beginnt ihre ‘große Fahrt’, die sie bald über den Atlantik in die Neue Welt treiben wird. Sie wird ihren Niederschlag in weiteren Bänden aus der Geschichte der Empfindlichkeit finden, allen voran in dem Band Explosion. Roman der Ethnologie. Ein stetes Widerlager indes zu der in den Romanen und Glossenbänden erzählten Geschichte einer Beziehung und zweier Künste geben die realisierten, gemeinsamen Arbeiten von Leonore Mau und Hubert Fichte ab. In dieser Hinsicht bietet der Aufenthalt in Portugal in den letzten Monaten des Jahres 1964 die Gelegenheit, auf eine heute fast vergessene und schwer zugängliche Form ihrer Zusammenarbeit zu verweisen, die maßgeblich durch das experimentelle und anderen Medien gegenüber offene Klima am Literarischen Colloquium in Berlin beeinflusst worden ist.

Zwischen 1966 und 1971 realisierten Leonore Mau und Hubert Fichte vier Fotofilme: Der Tag eines unständigen Hafenarbeiters (WDR, 1966), Der Fischmarkt und die Fische (NDR, 1968), Die Spanische Treppe (WDR, 1970) und Zwei mal 45 Bilder/Sätze aus Agadir (SWF, 1971). Ihre Länge schwankt zwischen zehn und zwölf Minuten. Entstanden sind sie als Beiträge für Kulturmagazine, wie beispielsweise Studio III im NDR, das über bildende Kunst und Theater berichtete. Die Fotofilme galten als Beitrag zum Thema Fotografie. Die Bildebene dieser Filme besteht aus Schwarzweiß-Fotografien, die jeweils drei oder vier Sekunden zu sehen sind. Die meisten sind starr, mit einer unveränderten Kameraeinstellung am Tricktisch abgefilmt. Bei einigen wenigen ist eine Bewegung zu beobachten, schwenkt die Kamera von einer Seite auf die andere oder fährt auf das Bild zu. Auch gibt es einige Auf- und Abblenden, doch in der Regel sind die Fotografien hart aneinander geschnitten. Der Kommentar ist von Fichte selbst gesprochen. In den Passagen ohne Kommentar ertönt ein Triangel, der im Rhythmus der Bilder angeschlagen wird und so ihr Erscheinen akzentuiert. In Alte Welt gibt es einen knappen, tagebuchartigen Eintrag zu dieser Produktion:

  1. September I967

Ich schneide den ganzen Tag in Lokstedt [im Sendegebäude des NDR] mit Irma zusammen den Fotofilm über die Fischerstadt in Portugal.

Wie präzise die Cutterin arbeitet.

Was für eine Sauarbeit. (Alte Welt, S. 194)

Die erste Fotografie, die den Film Der Fischmarkt und die Fische eröffnet, formuliert zugleich sein Programm. Zu sehen ist zunächst ein Konvexspiegel, der an einer unübersichtlichen Straßenecke angebracht ist. In ihm spiegelt sich, durch die Wölbung verzerrt, eine Häuserfront, vor der ein paar Menschen vorbeigehen. Daraufhin schwenkt der Film auf der Fotografie nach unten. Ein Mann kommt ins Blickfeld, der an der Befestigungsstange des Spiegels lehnt und aus dem Bild in die Ferne sieht. Dann blendet der Film ab, und für einen Augenblick ist nur Schwarzfilm zu sehen. Die Eröffnung des Films thematisiert also den Vorgang der Wahrnehmung. Der Blick, den der Mann auf das Dorf richtet, und das verzerrte Bild im Spiegel korrelieren miteinander – der Akt des Wahrnehmens und das Wahrgenommene. Der Spiegel erlaubt, so lässt sich die Fotografie interpretieren, einen Blick in den Kopf des Mannes, als bilde die Halterungsstange die überproportionale Nervenbahn zwischen Augen und Sehzentrum. Ferner weist der Spiegel auf eines der zentralen bildlichen Motive der Fotografien im Film voraus: auf die Augen der Fische. Denn die Weise, wie die Häuserfront im Spiegel erscheint, entspricht der Aufnahme mit einem Weitwinkelobjektiv, das unter Fotografen manchmal auch ‘Fischauge’ genannt wird. Bereits im Fotofilm von 1968 finden sich also jene fotografischen Mittel eingesetzt, an denen sich der Disput zwischen Irma und Jäcki in Eine Glückliche Liebe immer wieder entzündet.

Nach dem Schwarzfilm folgt eine kurze Ouvertüre aus acht Fotografien, die den Fischmarkt am Strand von Sesimbra zeigen. Die Fische liegen in geometrischen Mustern ausgebreitet und werden von vielen Menschen begutachtet. Danach beginnt die erste von insgesamt fünf thematischen Sequenzen. Sie bietet erste Eindrücke des Dorfes: Häuser, Straßen, Cafés, Menschen, Autos, Busse und immer wieder Polizisten und Militärs. In Portugal herrschte in jenen Jahren immer noch die Diktatur Antonio Salazars, die eine der längsten in Europa war und erst zehn Jahre später, 1974, mit der Nelkenrevolution enden sollte. Der Kommentar setzt dazu aus vielen Namen und recherchierten Partikeln, aus unterschiedlichen, konträren, sogar widersprüchlichen Einzelheiten, die hypothetische Gestalt eines portugiesischen Fischers zusammen, die an eine kubistische Figur denken lässt:

Du heißt João, Antonio, Joãquim oder João-Antonio.

Wenn du Manuel heißt, rufen sie dich Manell.

Du wohnst bei deinen Eltern.

Sie besitzen ein kleines Haus oder sie wohnen zur Miete bei der Stadt.

Du hast ein Zimmer für dich allein, weil du der Älteste bist.

Deine Geschwister schlafen zusammen; deine Eltern schlafen in der Küche.

Oder ihr wohnt alle zusammen in einem großen Raum auf dem Dachboden, und wenn man euch besuchen will, muss man eine Leiter hochsteigen. […]

In dieser Art ist der gesamte Kommentar gehalten. – Eine zweite Sequenz zeigt die Arbeit der Fischer an Land. Der Kommentar führt dazu aus, dass sich die Fischer von Sesimbra zu Genossenschaften zusammengeschlossen haben, die sich jeweils aufteilen und im Wechsel einmal an Land, einmal auf See arbeiten. Auf den Fotografien werden Netze eingeholt, Fische gesäubert und ausgenommen, leere Netze entwirrt, geflickt und für den nächsten Fang vorbereitet. Die darauf folgende Einstellung gibt eine Kinderzeichnung wieder, auf der ein Fischerboot auf hoher See mit ausgeworfenen Netzen gemalt ist. Dieses Zwischenbild wird vom Kommentar aufgegriffen, der über die Bedingungen der Arbeit auf See handelt, während die dritte Sequenz aus Fotografien besteht, auf denen ausschließlich gefangene, tote Fische zu sehen sind. Sie beginnt mit einigen Totalen, die teils zu Haufen gestapelte, teils in Kästen sortierte Fische wiedergeben. Die Ausschnitte der Fotografien werden immer enger gezogen. Zunächst sind noch einzelne Fische zu sehen – darunter auch wie zu einem Spinnennetz aufgespannte Tintenfische –, bis schließlich nur noch Details übrig bleiben, die manchmal ganz unwirklich anmuten: abgerissene, am Strand liegen gebliebene Fischköpfe, aufgesperrte Mäuler, feingliedrige Zähne, Fischaugen. Im harten Kontrast wendet sich die vierte Sequenz noch einmal den Menschen und dem Dorf zu, zeigt Bilder des Straßenlebens und religiöser Prozessionen. Der Kommentar beleuchtet dazu das Privatleben und kommt auch auf die Prostituierten am Strand zu sprechen, über die man hier im Film eine neue, in den gedruckten Texten vorenthaltene Information erhält:

Du bist verlobt.

Oder du hast eine Freundin.

Oder du gehst am Wochenende zu den Nutten, die aus Lissabon oder Setúbal kommen und im Dunkeln am Strand sitzen und warten mit einer Taschenlampe.

Das ist jetzt auch verboten.

Die Krankheiten nehmen jetzt zu. […]

Die fünfte Sequenz schließlich ist wiederum menschenleer. Sie reiht die Arbeitsgeräte der Fischer auf: Netze, Käscher, Reusen, Schwimmkörper, Seile, Anker, Kisten – sowie Fischerboote, ihre Namen und ihre Bemalungen. In dem Maß, in dem die Bilder entleert werden, lösen sich die abgebildeten Gegenstände und Geräte in formale Strukturen auf. Und dazu ertönt im Kommentar einzig eine Auflistung portugiesischer Fischnamen – insgesamt 42; darunter auch diejenigen, die den Roman Die Palette ausklingen lassen.

Inhaltlich zeigt der Fotofilm Arbeit und Leben in einem Fischerdorf und schließt damit an ein gerade im italienischen Neorealismus der 1950er Jahre bevorzugtes Thema an: die Fischer, die unter den Bedingungen des Kapitalismus und des einsetzenden Tourismus ihre Tradition und ihre Lebenswelt verlieren. La terra trema – Die Erde bebt – von Luchino Visconti steht dafür als eine Art Leitfilm. Formal hingegen lassen sich in dem Fotofilm bereits grundlegende Prinzipen erkennen, die auf den Foto-Text-Zyklus Xango, Petersilie und Psyche vorausweisen. Die Fotografien und der Kommentar behaupten sich als zwei selbständige und ebenbürtige Zugänge zu derselben portugiesischen Lebenswelt. Sie greifen dieselben Themen auf, die sich allerdings nur an wenigen Stellen unmittelbar berühren. Meistens werden sie verschoben, zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgegriffen. Bilder und Kommentar klaffen auseinander. Von ihren traditionellen Funktionen befreit, müssen weder die Fotografien den Kommentar bebildern, noch muss der Kommentar die Bilder erklären. Das eröffnet für beide Medien Spielräume, innerhalb deren sie ihren eigenen Weg der Darstellung einschlagen können. Dadurch ergeben sich für die Rezeption Brüche und Verschiebungen, die eine gewohnte Wahrnehmung als Dokumentation unterlaufen und den Fotofilm als eine Konstruktion von Bildern und Tönen ausstellen. So hält der Fotofilm bei den Zuschauern das Bewusstsein wach, dass er die Lebenswelt, die er dokumentiert, zugleich erschafft – als ein poetisches Gebilde.

[S. 125–147]