Jäcki ging in das Hotelzimmer zurück.
Er stellte den Propeller an.
Er suchte die Karteikarten zusammen und bündelte sie mit einem Bindfaden.
Er nahm Din-A-4-Papier aus dem Koffer und eine braune Pappe.
– Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Literatur ist der zwischen Karteikarten und Din-A-4-Papier. Für Herodot gab es diesen Unterschied nicht.
– Ich schreibe einen Roman, sagte Jäcki zu Irma:
– Ich habe Henry James Unrecht getan. Wenn nichts anderes Literatur ist, im Gegensatz zum Forschungsbericht, als Der Sturm und Das betrunkene Schiff, dann ist James der moderne Schriftsteller.
– Was meinst du damit.
– Die absolute Metapher.
– Das ist ganz klar.
Jäcki merkte nicht, daß Irma sich über ihn lustig machte.
– Die Amerikaner haben Henry James mißverstanden und über Washington Square einen Film gedreht, der Die Erbin hieß.
– Aber das ist es doch auch. Die unglückliche Liebesgeschichte eines Mädchens, das enterbt wird.
– Ich merke genau, daß du mich an der Nase herumführst. Natürlich ist der Roman das und ist das natürlich überhaupt nicht. Er ist die erste soziologische Darstellung einer Gesellschaft mit den Mitteln dieser Gesellschaft selbst. Ich glaube, in Berlin würden sie das den kritischen Gestus nennen. In The Turn of the Screw geht James noch eine Umdrehung weiter: Eine Geistergeschichte mit dem Titel Die Drehung der Daumenschraube. Er schildert, wie eine junge Frau von Geistererscheinungen gefoltert wird. Oder sind es gar keine Geistererscheinungen?
Handelt es sich um eine Geisteskranke, die ihre Zöglinge foltert, die einen Zögling bis zu Tode foltert? Doch wohl vor Freud um die erste Schilderung einer Paranoia. Dulu will das nicht sehen. Es ist mir völlig unverständlich. Sie findet das Jungmädchenkitsch.
– Da geht die Umgebung mit ihr durch, in der sie die Romane von James gelesen hat.
– Das eine ist also das ganz andre. Die Erbin ist ein Viertel von New York. Die Geistererzählung ist die Psychologie der Geistererzählung. Und James beherrscht seine Mittel so, daß er das ganz andre dann wieder mit dem ersten zusammenfallen lassen kann: Das Erzählen selbst ist der Titel. Foltern ist Erzählen. Das erinnert sogar deine Agatha Christie.
– Meine? Deine?
– Aber das will ich nicht. Das will ich nicht, weil ich das Vermögen dazu nicht besitze. Ich will auch nicht das, was Jean Genet wollte: Einen Stein solange beschlagen, bis er ganz wieder wie ein Stein aussieht. Der Steinstein!
– Das ist keine Kunst.
– Doch. Das ist Kunst. Ich will das Umgekehrte. Weißt du noch, als wir uns kennenlernten und ich schrieb Erzählungen aus Schweden. Ein Mann bringt einen Irren in die geschlossene Abteilung. Ich wollte unsere Fahrt nach Autun genauso beschreiben. Es mißlang. Einen Prozeß in der Natur erleben, den man nur herauszulösen braucht, und er ist Kunst.
– Wir können uns das vornehmen. Eine Woche lang leben wir einen Roman.
– Ich glaube, das haben wir eben hinter uns. Ich wollte einmal für die Bremer Vorlesungen den ganzen Gang einer Forschung beschreiben. Alles. Vom Bestechungsgeld bis zum gefälschten Interview. Dazu braucht man ein sehr kurzes Forschungsvorhaben, weil sonst das Leben zur Beschreibung dieser Forschung nicht ausreicht.
Jäcki erklärte Irma noch lange.
Er täuschte sie.
Sie hatte den Stein, der als Kunst nichts anderes als einen Stein bedeuten sollte, als keine Kunst bezeichnet. Er konnte sich selbst nicht beweisen, was den Forschungsbericht, und handelte er auch von einer kurzen, mißlungenen Forschung, zu einem Roman machen würde.
– Herodot?
– Der Zufall, daß ich und Irma über den Forschungsbericht als Roman reflektieren?
– Empedokles?
– Ist Empedokles vorgefunden oder zusätzlich drurnherumgerahmt?
– Dulus Zeilen auf Rechenpapier? Also doch Verfälschung!
– Stört es dich, daß du darin vorkommen wirst? fragte Jäcki.
– Überhaupt nicht.
– Wenn es mir nur nicht wieder zerspellt morgen früh, wie Träume.
– Hast du das Zimmermädchen heute gesehen?
– Nein. Ich will sie auch nicht mehr sehen. Stell dir vor, sie erzählt mir jetzt noch alles von dem Getränk, das das Bewußtsein zerstört, und von dem anderen Getränk, das die Trancen rückgängig macht, und bringt mir die Kräuter. Dann steh ich da, mit einer Hand voll Unkraut.
– Ich bin ihr heute begegnet. Sie sah schlimm aus. Ihre Augen hatten keinen Glanz mehr. Das waren nicht mehr die Augen einer Elster. Sie sagte, sie hat zu hohen Blutdruck. Crataegutt kannte sie gar nicht. Das gibt es in den Apotheken hier nicht. Ich habe ihr meine Flasche gegeben. Hast du schon einen Titel?
– Raubvögel und Seefische.
– Toll!
Mittwoch, den 13. Februar
– Raubvögel und Seefische. Quatsch, Roman! dachte Jäcki:
– Forschungsbericht.
– Heute ist Mittwoch.
– Heute ist ein anderer Tag.
– Kein Parlando. Kunstvoll ausgebreitete Banalitäten.
– Gleich kommt Frank zurück und wird den Tag mit mir verbringen.
– Ich will die ganze Zuckerbäckerei vergessen.
– Zuckerbäcker sitzen über den Wolken des World-Trade-Centers und backen sich gegenseitig Geburtstagstorten und lassen sie über Afrika und die Neue Welt herniederschweben.
– Es handelt sich um etwas anderes:
– Ich habe zwei Stunden Zeit.
– Was kann man in zwei Stunden nicht alles erfahren. Zwei Stunden ist die durchschnittliche Zeit. Danach werden sie müde. Ich muß es genau vorbereiten. Ich darf keine unnötige Frage verschießen. Die Frage ist obszön. Die Frage ist die Folter. Es dürfen auch keine Pausen entstehen, in denen die Spannung absackt. Ich muß das Gerüst meiner Fragen im Kopf haben. Die einzelnen Teile frei beweglich, daß ich dem Gespräch auf wichtige Nebengeleise folgen kann, dann immer auf die Grundbewegung zurückkommen, und sollte sich die Grundbewegung drehen, daß ich die Details, die mir unerläßlich sind, dennoch erfahre – wie bei Genet, der gar nicht die Absicht hatte, einem Gespräch zu folgen, der wollte die Fragen zerstören.
– Plan!
– Auch als Modell für die Studenten.
– “Es handelt sich darum, die Erforschung des Arbeiters Frank zurückzuholen aus dem mythischen Schmonzes, aus Kant, Hegel, Marx, Sartre, Freud, Lacan, Nietzsche, Jünger, Strauss, Mircea Eliade, zurückzuholen, sage ich, ins Nachprüfbare, Materiale, Materielle. Punkt” Ein Satz, dessen Gestus eben der Absicht widerspricht, wie dieser auch.
– Ich muß meine Fragen an Frank aufschreiben, auswendiglernen, und die Zettel vernichten.
– Was ist deine erste Erinnerung?
– Was ist meine erste Erinnerung? Ruhe! Das gehört hier jetzt nicht hin.
– Was weißt du von deiner Geburt?
– Was weiß ich von meiner Geburt?
– Sagenartige Erzählungen der Mutter, sagenartige Erzählungen des Vaters. Blaugeburt? Muttermilch? Amme? Babypflege der Schwarzen Kariben. Behandlung der Schwangeren. Art des Gebärens. Waschungen. Tees. Enthaltsamkeit. Lesbische Gepflogenheiten der Stillenden.
–Warst du ein Beißer?
– War ich ein Beißer?
– Dulu war eine Beißerin!
– Die Schnäbel, die aus den Brüsten der Göttinnen in (Çatal Hüyük stechen. Ruhe! Keine Metaphern!
– Essen die Schwangeren Erde?
–Was für Erde?
–Aßest du Erde?
–Wie lange?
– Ich aß keine Erde.
– Ökonomische Situation der Familie. Eltern verheiratet. Vater andre Frauen. Mutter hält Familie zusammen. Geschwister.
Ernährung. Trinken.
–Band dich deine Mutter in der Karre fest?
– Kinderkarre. Dangriga.
– Oder lief sie bei jedem deiner Fluchtversuche hinter dir her? Stand sie jedesmal vom Essen auf?
– Band sie dich über ihrem Arsch fest?
–Träume.
– Schrecken.
– Strafen.
– Wann hattest du zuerst einen hoch?
– Ich hatte immer einen hoch.
– Wann hast du das erste Mal gewichst?
– An was hast du dabei gedacht?
– Wann sahst du das erste Mal jemanden ficken?
– Wo machten es deine Eltern?
– Hörtest du deine Eltern?
– Sahst du deine Eltern?
– Liebtest du deine Mutter?
– Liebtest du deinen Vater?
– Liebte dich dein Vater?
– Liebte dich deine Mutter?
– Wie drückten sie ihre Liebe zu dir aus?
– Haßte dich dein Vater?
– Mein Vater war gar nicht da.
– Sehntest du dich nach deinem Vater?
– Was erwartetest du von deinem Vater?
– Wie erschien dir dein Vater?
– Haßte dich deine Mutter?
– Woran merktest du ihren Haß?
– Ließ sie dich in der Furche liegen?
– Gab sie dich bösen Frauen in Obhut?
– Durften die dich schlagen?
– Sagte deine Mutter oft, daß sie dich liebte?
– Das geht zu weit.
– Frank kommt meinetwegen. Er will den Tag mit mir verbringen. Vielleicht nimmt er mich abends mit nach Hause. Es wird schwierig sein, die Gesetze des Gastes beachten und ihn fragen:
– Näßtest du ins Bett?
– Was geschah, wenn die Windeln gewechselt wurden?
– Durchfälle und Verstopfungen der Schwarzen Kariben.
– Würmer.
– Das ist meine Arbeit.
– Herodot – nicht James.
– Nachmittags besuche ich noch einmal den Maler. Er wird mir aus einem anderen Winkel die gleichen Fragen beantworten.
– Herodot, die Plaudertasche.
– Hoffentlich bleibt Frank bei seinen Methodisten, hoffentlich treffe ich den Maler nie wieder, daß sie nicht durch ihren überflüssigen Stoff meine vollkommene Komposition gefährden! [p. 139 – 145, …]
Rest ist flüchtig. Ich lerne ihn immer wieder. Lerne, ihn aufzuschreiben. Ich vergesse ihn immer wieder. Einmal stürzte ich mich in den Ätna zurück.
Die weißgekleideten Nonnen erschienen dahinten klein und grün.
Jäcki erreichte das Hotel.
Antonio machte ihm Zeichen vom Wehr.
– Es geht nicht. Vor den drei Nonnen mit den Gesangbüchern.
Jäcki ging zum Wehr.
Zwei Schwarze Kariben traten auf, die Jäcki Gras verkaufen wollten, Ganja.
Antonio hatte sich versteckt.
– Gras kann ich nicht gebrauchen.
Jäcki lockte die Ganjamänner vom Wehr weg, der Stadt zu.
Er fand Antonio hinter großen Kabelrollen.
– Schnell, sagte Antonio.
– Gib mir zehn Dollar. Mit mir verlierst du nicht!
Wieder stachen die Mücken.
– Bis morgen um die gleiche Zeit.
– Bis morgen, log Jäcki.
Er wußte nicht, wie er Abschiede verarbeiten sollte.
– Was mache ich mit einer Lüge im Forschungsbericht?
– Das ist es. Forschungsbericht. Roman.
– Herodot ist der erste Romancier. Er schrieb, wie er sich Ägypten vorstellte. Wie die Ägypter ihm Ägypten vorlogen.
– Histämi und Tithämi: Lügen aufweisen.
– Die Wissenschaften sind Romane über Helden wie Hegel, Freud, Lacan. Die Verfasser sind die Titel.
Jäcki schrieb die ersten Zeilen.
Montag, den 4· Februar 1980.
– Ich freue mich auf das Essen, sagte ich.
– Ich will in Ruhe meine Arbeit machen, sagte Irma.
– Ich arbeite, wenn ich esse.
Das Taxi fuhr an einem vaterländischen Denkmal vorüber.
Es ging ohne Mühe.
Das Zimmermädchen brachte die Handtücher.
Sie sah, daß er nicht gestört werden wollte.
Umständlich spielte sie ihm vor: Ich werde Sie nicht stören! und riß die Lampe runter.
Es störte Jäcki nicht.
Die ersten Seiten überzogen sich schnell mit Text.
Jäcki mußte Karteikarten hervorholen und sich Notizen machen für Passagen, die er in Gedanken schon entwickelt hatte, die er mit Schreiben noch nicht einholen konnte.
– Die Küche der Waldläufer.
– Die schwarzen Indianer im Staate Bahia.
– Völkermord.
– Jesuiten.
– Dreihunderttausend christianisierte Sklaven.
– Die Alphabetisierungskampagne in Nicaragua.
Das Zimmermädchen verließ den Raum.
Jäcki stockte.
– Ich freue mich auf das Essen, sagte ich.
– Sagte ich?
– Das würde ich nie sagen.
– Es ergibt eine schöne Linie vom vergeblichen Essenswunsch über Menschenfresserei, Hühnersuppe bis hin zur verweigerten Opfermahlzeit.
– Wenn schon.
– Es ist gar kein vaterländisches Denkmal.
– Fakten. Keine Entsprechungen.
Irma kam.
– Störe ich.
– Präsens? Perfekt! Nein. Nur wenn du fragst. Gedanken werden durch Geräusche zerstört. Aber das begreift ein Fotograf wohl nie.
– Geräusche, hast du gesagt.
– Es gibt kein anderes Wort.
– Laute.
– Danke. Das ist eine andre Stillage.
Jäcki wollte den Anfang gefährden.
Er sagte:
– Ich habe zu schreiben begonnen. Ich verändere nichts. Die Ereignisse und Gedanken werden in der gleichen Reihenfolge auftreten wie in der Wirklichkeit. Das ist das Kompositionsprinzip. Das ist das Risiko. Das Leben schreibt die schönsten Geschichten, sagt Klaus Ewaldt. Nur die Wiederholungen lasse ich weg.
– Liest du mir vor?
– Wenn das erste Kapitel fertig ist.
– Alles?
– Irma vorlesen von lrma?
– Von Antonio?
– Antonio:
– Wer ist die Frau?
– Meine Freundin.
– Ich dachte, es sei deine Mutter.
Er gebrauchte den üppigen spanischen Konjunktiv.
– Wenn es alle denken!
– Wie leicht man sich in den Hotels mit dem Inzest abfindet.
– Paare wie wir sind Mode.
– Dann lese ich ihr von den Skrupeln, ihr vorzulesen, vor.
[p. 150–152]