7.

Für Irma und Jäcki, für Funk und Stern ist Tourismus Arbeit.

Am nächsten Morgen verließen sie ihre Nobelabsteige, die gestonten Stones, den Diktator mit dem Sparschweinchen auf der Flucht, den teuren Copacabanasalat, in dem eine Babykakerlatsche schwamm und nahmen ein Taxi zum Morro da Providencia.

Irma bestand darauf, ihre Fototasche selbst zu tragen.

Jäcki ging ohne alles.

Nur den Artikel aus dem Globo hatte er sich in die Gesäßtasche gesteckt.

Am 29. Dezember 1968 riß ein Steinrutsch etwa hundert Häuser der Favela auf dem Morro da Providencia in den Steinbruch. 45 Personen wurden getötet. Vor allem Kinder.

Hunderte von Obdachlosen

Die Leichen konnten nicht alle geborgen werden

Das geotechnische Institut hat Vermessungen angestellt

Und die Polizei hat weiteren 1100 Personen das Wohnen in der Favela, wegen Einsturzgefahr verboten.

Der Morro da Providencia liegt zwei Minuten von der Central do Brasil, vom Zentrum Brasiliens, vom Hauptbahnhof entfernt.

 

Jäcki möchte im Stadtzentrum Irma zum Fotographieren eines Sgraffito bewegen.

Aber sie strebt einer blutübergossenen Torte zu.

– Ein Sgraffito. Das ergibt kein Foto. Nur eine Reproduktion.

– Es kommt doch auf den Ausschnitt an.

Jäcki sieht Irma im Pressewind des Stern absausen

in Featurefotographie

Mit einem leicht würgenden Gefühl denkt er an die Fotos zurück, mit denen er sie kennenlernte und die er als Illustration für sein schwules Theaterstück zerschnitt.

Nonnen in venezianischen Geometrien.

Mauern, Schornsteine äußerst fragile Schrägen, wie nur Irma sie zurechtzuschieben verstand.

Würde das nun alles in der Neuen Welt kaputtgehen?

Damals war es noch die alte Leica und die Oberlehrer Rolleiflex.

Jetzt hatte sie sich zu zwei neuen Leicas und zwei Mamyas hochverdient.

Sgraffiti

– Demian was here.

– Che.

Sgraffiti in der Art des Tachismus.

– Ich könnte mir eine Geschichte dieses Erdteiles nur aus Sgraffiti denken, Mauern, Farbschichten, Vegetationsablagerungen, Lettern.

– Ich bin aber niemand, der Kunstreproduktion gelernt hat.

Die Bombeiros waren natürlich etwas andres.

Eine neumanuelinische Rüssel- und Schlagsahnearchitektur wie sie in Lissabon stehen könnte aber unbedenklich mit Blut übergossen

Damit auch jeder begriff daß hier die schnellen Flitzer zu Hause waren, die schwarzen mit den funkelnden Helmen und den langen dicken Schläuchen.

Und daß es sich um Unglücke und Feuersbrünste und Sirenen handelte.

– Hoffentlich haben die Farbfilme in der Hitze keinen Stich gekriegt.

– Und das Rot kommt raus.

– Das Rot zwischen den alten verstaubten Bäumen und die surrealistischen Farben der Sonntagskleider.

 

Hinter der Diktaturarchitektur aus den dreißiger Jahren, hinter der Presidente Vargas macht sich ein junger Mann an Jäcki und Irma ran, geht immer leicht hinter Irma, auf der Seite der Fototasche.

Jäcki fängt an mit ihm zu reden.

Wechselt hinüber zur Fototasche

Und der junge Mann warnt vor Spitzbuben, Taschendieben, Räubern.

– Hier.

– Um den Bahnhof.

– Da sind die Favelas nicht weit.

In einer dünnen platanenbewachsenen Straße steht vor einem heruntergelassenen Rolladen ein schmiedeeisernes Bett.

Daneben ein Schrank mit ovalem Spiegel. Kochgeschirr

Eine alte Negerin setzt sich auf dem sorgfältig gemachten Bett zurück

Sie sieht aus den Falten ihres Gesichtes gerade in die beiden Glasaugen der Mamyaflex als Irma das Foto macht.

Neben dem Zentralbahnhof geht es zum Steinbruch der Vorsehung hoch.

Die Treppe zum Morro da Providencia hoch ist aus Beton.

Urwald an den Abhängen.

Oben der Schrottkranz der Hütten.

Jäcki erreicht den Gipfel wie auf einer Gebirgswanderung

Oben der Grat

Dahinter der Abgrund.

Das ganz andre.

Aber nicht eine liebliche Öffnung auf Schären und Nachtigallenschlösser

Mehr der Schlund voller Schafskelette in den Herden um Herden stürzen.

– Wie ein Mondkrater, denkt Jäcki.

– Urvotze aus Granit

– Gelegentlich hüpfen ein paar Brocken zur Andeutung hinunter.

Oben, am Abbruch längs die Stützen für die zittrichten Hütten –

Einige strecken ihre Balken wie Fühler in die Luft

Die am Rande sind jetzt nicht mehr bewohnt.

Jäcki dreht sich um.

Er sieht Rio mit seinem Zuckerhut jetzt aus der Perspektive der Favelabewohner.

Die Skyline der schönsten Stadt der Welt.

Irma macht ein Foto.

Pfahlbauten im Vordergrund unten im Dunst die bunten Kolonialhäuschen mit den Tortenverzierungen der Jahrhundertwende, das weiße Ministerium mit der Michelangelokuppel

Irma macht ein Foto, den Kramladen im Vordergrund,

dahinter die Central do Brasil, der Bahnhof

Die Bar des Morro da Providencia ist nicht in den Schlund gerutscht.

Die Bar im Vordergrund, dahinter im Dunst Berge von Brettern

dürr wie Betonmasten einer Kathedrale von Niemeyer

Ein alter Mann wird auf einem Stuhl von drei Männern die Betontreppe hoch, den Grat längs getragen.

Er hat einen frischen Verband.

– Er kommt aus dem Krankenhaus, sagt einer der Träger.

Er hat ein Kreuz mit flammendem Herzen auf die kakaofarbene Brust tätowiert.

Eine Frau winkt Jäcki und Irma an die Hütte.

Die Frau geht eine kleine Holztreppe hinab bis zum Grat.

Sie stellt sich neben die Stützen ihres Pfahlbaus.

Sie umarmt den Stein unter einer Stütze und wiegt ihn hin und her.

Ihre Hütte fängt an zu wackeln. Das Treppchen. Die Blumen in den rostigen Blechkanistern. Comigo ninguém pode wackelt, die Kala wackelt, das Basilikum.

Ihr ganzes Einfamilienhaus. Die Bäder, die Küche, die Speisekammer, der Keller, der Abstellraum, der Boden, Living, Schlafzimmer, Studio, Kinderzimmer, Hobbyraum, Studio, Herrenzimmer, Swimmingpool auf der Dachterrasse.

Alles wackelt mit, weil die Frau einen Stein unter einer Stütze ihres Einfamilienhauses umarmt.

Die Eltern drehen dem kleinen Mädchen das krause Haar zu zöpfchenartigen Strapsen

Und befestigen rosa Schleifehen daran.

Ein Junge trägt auf dem makellosen Körper ein frischgebügeltes Mickey-Mouse Hemd mit hundert Löchern.

Ein Mann lädt Jäcki zum Cachaça ins Holzhaus.

Der Junge wäscht die Schnapsgläser noch einmal aus.

Und schlägt sie draußen über dem Granitabgrund sauber.

Ein Junge. Ein Schäferhund.

– Auch hier fangen jetzt die deutschen Schäferhunde an.

Das Haus hat nur einen Raum.

Kein Klo.

Kein fließendes Wasser

Der Boden ist gefegt.

– Sie können es kaufen, sagt der Junge.

– Ich will es nicht kaufen, sagt Jäcki:

– Was kostet ein solches Haus.

– Es ist billig. 700 – 800 Cruzeiros.·

– Der Cruzeiro ist ungefähr so viel wert wie eine Mark.

Jäcki und Irma kommen wieder los.

Sie verabschieden sich und danken umständlich für den Cachaça.

 

Jäcki und Irma gehen zu den leeren Häusern, über dem Abgrund.

– Da sind sie runtergerutscht, sagt ein Mann und streckt den Arm aus.

Da.

Irma macht ein Foto von der Granitschlucht.

Das Foto mit dem ausgestreckten Arm und dem Zeigefinger.

Da.

Da liegt ein Kinderschuh.

Es ist natürlich unerträglich sentimental, denkt Jäcki, in einem Feature für Christian Gneuss, in einem sich sachlich gebenden Satz zu sagen, daß dort ein Kinderschuh liegt.

 

8.

Jäcki, als er die Reise vorbereitete, hatte sich den neuen Guide besorgt.

Es waren keine hektografierten Blättchen mehr vom Stadtkasino, die ein Spitzel der Sittenpolizei aus der Tasche zog.

Der Guide, der Führer war zu einem Taschenbuch angeschwollen.

Eos Guide hieß das jetzt

Eingebunden in Plastik

– Daß keine Spuren bleiben von Samen, Urin, wenn es auf einem

Klo mal runter fällt. Kot. Blut.

– Abwaschbar.

Rio eine Welt aus Bars, Sanitarios und Banhos Turcos.

Jäcki hatte keine Lust auf Bars.

An der Praça Dom Pedro II. – die erste Klappe zu, die zweite muffig, leer.

Praça Maua nichts los außer Policia Militar und Nutten

Die schwulen Kinos in Copacabana waren vornehm und von Polizei bewacht.

Das eine Banho Turco konnte er nicht finden.

Jäcki fuhr wieder zum Tiradentes Platz.

Der war ihm heimelig durch den Mord des “Bleichen” an “Marilu” und “Marta”

Auch am Denkmal für den Gehäuteten konnte er nichts finden.

Die Kinos wirkten spießig.

Die Leute strebten vom Largo de Carioca her über die Praça Tiradentes weiter nach links auf eine enge Straße zu

Jäcki ließ sich mitreißen.

Weiter,

Zu einem eingegitterten Park, der war jetzt verschlossen

Die blutige Feuerwehrwache schimmerte durch die Bäume.

Dann kam Bauhausarchitektur.

Diktaturen.

Und der Bahnhof wieder, der Morro da Providencia dahinter, mit seinem schwarzen Loch

Am Rand oben die paar Lauben.

Jäcki hatte Durst.

Er überstolperte die Trottoirs eines improvisierten Busbahnhofes.

Die Treppen des provinziellen Dreißiger Jahre Gebäudes hoch.

Central do Brasil.

Ein Kiosk.

Es gab Milkshakes.

Jäcki wollte den grünen.

Avocado süß

Noch einen.

Der Schweiß floß von Jäcki ab.

Er fing an zu schmecken.

Der eisige süße Avocadoschaum.

Er sah sich um.

Ein kleiner, dicker, schwarzer Mann mit einer kurzen weißen Hose ging immer wieder, fünfmal, ohne zu schwitzen neben Jäcki die Treppe runter

Jäcki hinterher

Eine Unterführung durch welche sich die Arbeiter von den Bussen zu den Vorortsbahnen preßten.

Eine Tür seitlich.

Viele zweigten ab.

Auch Jäcki ging da rein

Es war das Bahnhofspissoir der Central do Brasil

Zwei Säle zum Pinkeln im Zentrum von Groß Rio

18 Millionen Einwohner oder so.

Eine Wand mit Kabinen.

Die meisten offen.

Offen kackten sie, in der Hucke ächzend.

Andre winkten aus den offenen Kabinen heraus.

Blickten stehend winkten.

Klomänner trugen große Eimer mit gesprenkelten Notizzetteln.

Das Toilettepapier darf nicht heruntergespült werden.

Die Kanalisation unter der Zentrale von Brasil ist zu dünn und zu kurz

Die Winkenden in den Kabinen werfen das Klopapier nach Gebrauch in eine Kiste, neben dem Loch.

Hundert Männer stehen an den überrieselten Wänden und pissen.

Einige zögern.

Neue schwabben rein.

Hundert weiße dünne dicke lange schwarze braune geschminkte mit Kräuselhaaren, mit portugiesischen Locken, Jäcki der einzige Blonde, verkniffene, exhuberante rütteln an ihren schwerdaniederhängenden Gliedern, halten, sie, wie ein Glas, das man langsam leert, im Gesicht den Ausdruck entschlummernder Säuglinge.

Die meisten halten ihn aufrecht

Schwarze Äste eines Urwalds aus Adern.

Neue hundert

Entblößen die Stämme bis hinauf zu den schwarzen Eiern.

Bläulich schimmernde wie gestanzte Nocken.

Die Strichjungen wichsen vorsichtig.

Die schwarzen Indianer gehn drauflos.

Immer neue spritzen die, Leche nennen sie es, Milch in die zischenden Wasserfälle der Spülung.

Dahinten ist noch ein Klo.

Jäcki stieg am anderen Ende der Central wieder in die Nacht hoch.

Und wie man in der Dunkelheit langsam die Augen gewöhnt gewöhnte Jäcki sich an das Gewimmle von Polizisten, Arbeitern, Militärs, minderjährigen Nutten, dicken kleinen schwarzen Männern mit kurzen Hosen, an die chemisch geglätteten Haare, an die unzähligen Milkshakes mit Papaya, Maracuja, Abacate, Ananas, Goiaba.

Er erkannte daß einer den andern jagte, schröpfte, verschlang, erpreßte, lockte, belächelte, verachtete, achtete

Jäcki erkannte die Ebenen, das abgerundete Podest vorne, die Haupttreppe, die Unterführung, die Besonderheiten der einen Klappe, und der zweiten.

Jäcki verfolgte die Verfolgung der Tunten durch die Policia Militar

Schlüpfte die Policia Militar hinten rein, rissen die Tucken, die Bichos, die Veados, die Hirsche, die Hündinnen vorne aus.

Jäcki erkannte die Freier, die Mörder, die Stricher, und die alles waren.

Central do Brasil – Hauptbahnhof.

Auf der zweiten Klappe stellt sich ein Mann neben Jäcki

Er hat einen vernarbten Schnitt im Gesicht.

Der Ausdruck des im Elend vom Vater Geprügelten.

Er zeigte Jäcki sein schwarzes Glied.

Es ist wie ein Arm der nach ihm langt.

Das Böseblinzeln. Das Zucken mit dem Kopf nach der Tür.

Jäcki folgt zögernd durch die hundert neuen, die an die Rinne stürzen.

Um eine Ecke.

Hier ist niemand mehr.

Der Mann wartet.

– Willst du, fragt er.

– Ich will. Und ist es umsonst

Wie sagt man?

Da graça

– oder.

Wie?

Hier kann man mit Wörtern schneiden.

– Interessado?

– Ich bin heiß. Und du kannst mir ja ein bißchen was geben.

– Wieviel.

– Wie du willst.

– Das ist gefährlich, denkt Jäcki

Aber er geht drüber hin.

– Schützt mich Pan hier, an der Central do Brasil?

– Er ist nicht mein Mörder, denkt Jäcki.

Der Mann führt ihn schwierige Mäander durch die Nacht.

Um 20 Meter neben dem Zentralbahnhof zu landen.

Die erste Hospedaria hoch.

– Was kostet das

– Zwei Cruzeiros.

– Also zwei Mark.

Der Empfangschef sitzt mit nacktem Oberkörper in einem Käfig aus Kaninchendraht.

Hinterhöfe.

Türen zum Gang

Doppelstöckig wie ein Gefängnis

Voll.

Die zweite Hospedaria hoch.

Wieder das Kaninchengitter.

– Hier kostet es fünf Cruzeiros.

In winkeligen Sperrholzverschlägen die Betten

Kein Ungeziefer.

Ein frisches Handtuch

Auf dem Gang die Dusche

Löcher in der Wand und in der Pappdecke.

Aus jeder Ritze schnarcht es.

Ventilator.

Jäcki glitscht vor Schweiß.

Im Laken die feuchten Flecken des vorigen Paarens.

Nun fällt Jäckis Schweiß dazu und sein Same, während der Mann mit der Narbe ihn stößt.

Jäcki beobachtet zurückgelehnt die borkige Hand auf seiner Hüfte.

Der Mann drängt seinen in Jäcki an etwas heran, das noch nie berührt worden war.

Der Mann lächelt, als er es fühlt

Er will noch einmal.

– Das gibts bei dem Preis zu, weil du so gut bist, sagt der Mann mit dem Schnitt im Gesicht.

– Chupa o meu pau, sagt er.

Jäcki versteht pão, Brot.

Lutsch mein Brot

Und denkt an Jesus Christus.

Aber es heißt wohl pau Holz

Urwald, Daphne, ägyptische Säulen mit Blättern

Jäcki hatte nicht genug.

Amado, der Chilene, auf Deutsch hatte aus seinem spanischen Gedanken in Hamburg übersetzt:

– Ich habe viel Käse geschluckt

– Aber das macht nichts, wenn man genug Brot dazu hat.

Jäcki hatte nicht genug.

Zurück zum Tiradentes Platz.

An der Bushaltestelle steht ein Polizist, der Jäcki drohend ansieht.

Mit hübschen Glubschaugen

Und das Polizistentschakko auffallend schief auf dem Kopf aus Benin.

– Jetzt werde ich gleich verhaftet, denkt Jäcki

An der nächsten Ecke sieht er sich noch mal um.

Der Polizist guckt noch immer.

Drohend.

Jäcki geht eine Ecke weiter

Und sieht sich noch mal um.

Das schiefe Tschakko ist nicht zu verkennen.

Der Polizist droht immer noch.

Und kommt jetzt hinter Jäcki her.

– Jetzt verhaftet er mich wirklich, denkt Jäcki

-Und dann stecken sie mir eine abgeschlagene Bierflasche hinten rein.

– Ich heiße Aristoteles, sagt der Polizist.

– Arischtotjeles.

Unter seinem Drohen brechen alle Orchideen des Amazonas auf.

Sie gehen schweigend zwischen dem eingegitterten Park und der blutübergossenen Torte der Bombeiros durch.

Auf der Straße steht ein Bett, Tüten, Pappen daneben, ein Bratenwender und Teekanne.

In dem tüllverzierten Eisenbett schläft ein obdachloses Paar.

 

Rio ist dunkel.

Nur auf der Presidente Vargas, der hundertmeterbreiten Diktaturavenida regelmäßige Beleuchtung.

Wolkenkratzerpfade.

Provinzgassen.

Wenig Betrieb.

Die Polizei kutschiert mit Pritschenwagen durch die Nacht.

Zwanzig Polizisten in voller Kriegsausrüstung

Aristoteles klemmt sein Tschakko unter den Arm.

Patrouillen.

Streifen.

Straßensperren.

Taxis winden sich an Kontrollen vorbei

Die Militärpolizisten lachen.

Um halb eins ist nichts mehr los.

Es knallt und trompetet plötzlich über einen Platz in die 30 Grad Celsius Nacht.

Tausend Ketten rasseln

Fässer dröhnen.

Frösche und Krötenton.

Alle Folterinstrumente klirren.

Oben im zweiten Stock stehn die Fenster weit auf.

Aus dem manuelinisch nachempfundenen Kolonialbau lehnen sich feine, weiße geplättete Mädchen und schnappen nach 30-Grad-Celsius-Nachtluft.

Die Zwischendecke bebt wie die Trommelfelle.

Im Sambaschritt.

Im Sambaschritt.

Die Bettler, die Stricher, die Krüppel die es sich auf der Prunktreppe der Oper bequem gemacht hatten, können nicht einschlafen.

 

Aristoteles möchte Hühnchen.

Jäcki ißt mit Aristoteles an einer Bude Hühnchen

Er betrinkt sich ein bißchen am vielen dünnen Bier

– Ich war 1965 am Suezkanal.

– Armee.

– Jetzt bin ich Busfahrer.

– Und Polizeischule.

– 10 – 14 Cruzeiros am Tag.

– 12 Stunden Arbeit

– Und die Schule nachts.

– Manchmal ist es sehr gut.

Er führt Jäcki weiter im Kreise.

Alte, bunte afrobunte Bürgershäuschen

Eine Negerin wäscht sich im Unterrock auf der Straße.

Die Tortenhäuser glühen aus der Nacht hervor, wenn ein Auto durch die unbeleuchteten Alleen fährt

Die Blätter der fremden Bäume bilden wie das Rankenwerk am Bühnenrahmen.

Die bunten Häuser scheinen zu zittern

Rio 1900.

Jäcki sieht Euclides da Cunha heimkehren aus den Sertões, im Tornister die pathetischen Tagebücher von der Campagne gegen die antirepublikanischen Hippies des Antonio Conselheiro aus denen er sein hartes Epos hervorskizzieren wird.

João do Rio fährt im Taxi zu satanischen Orgien.

Morais Filho belächelt eine Hinrichtung

Und Aluizio schreibt einen Fortsetzungsroman über einen Bienenstock über die ersten Favelas und über Lesbierinnen.

Der König von Benin lebt als Akutotrinker in Hauseingängen.

 

Wie ein Zwischentableau:

Der Puff

Hinter Planken

Kulissen grell angestrahlt

Ocker und Himmelblau, Grün und Violett.

Alle Türen, alle Fenster auf.

Leuchtsignale

Die Mädchen winken aus der Beletage.

Klumpen von Männern

Karren mit Süßigkeiten

Polizeiwagen

Dahinter Holzverschalungen für Betonkonstruktionen.

Ein Fußballstadion

Eine Kathedrale vielleicht.

Von Oscar Niemeyer.

Aristoteles und ich landen wieder in derselben Absteige.

In einem andern Zimmer.

Hier keine feuchten Flecken im Laken.

Aristoteles fängt an von der Revolution zu sprechen.

Er bewundert die Studenten in Berlin

Rudi!

Der rote Rudi!

– Was gibst du aus, sagt Aristoteles.

– Die anderen nehmen 10 oder zwanzig.

– Aber ich bin Polizist, sagt Aristoteles.

– Ich dachte es sei, ja, was?, sagt Jäcki

– Also 10, sagt Aristoteles und:

– Gelegentlich macht die Polizei Razzien.

– Aber selten.

– Wegen dem Mord an Marilu und Marta.

– Aber das ist schon wieder vorbei.

– Es gibt positive Homosexuelle und negative Homosexuelle

– Ich bin positiv.

– Für alles Geld der Welt fasse ich keinen Schwanz an.

– Aber homosexuell bin ich auch wenn ich positiv bin.

– Du bist sehr gut, sagt Aristoteles.

– Sehen wir uns mal wieder?

Aristoteles widmet Jäcki einen Taschenkrimi.

In Bertrams Hotel. Agatha Christie auf brasilianisch.

Simbolo schreibt er hinein

Amizade.

Freundschaft

Admiração.

[S. 29 –42]