Über die erste Inszenierung von Tote ohne Begräbnis nach dem Krieg in Hamburg schreibt Hubert Fichte in seinem neuen Buch Versuch über die Pubertät. Roman. “Da spielt der Nachwuchsregisseur den milden, diskussionsbedachten Nachwuchsregisseur, da spielt die jugendliche Heldin die den Kopf hebend Hebende, da spielt das Elefantenbaby rosa den Blondkopf mit was auf der Hinterhand, da spiel ich die bescheidene, kalkulierende, erschreckende Nachwuchskraft … Die Rollen unter den Rollen lassen in Ritzen und Pausen noch ein drittes Ensemble auftreten: Unter dem falschen Naturalismus von Sartre und der existentiellen Falschheit unserer Kollegialität ist diese dritte, tiefste Aufführung die unnatürlichste – unter unseren späten Make-ups, Hottentottensteißen werden immer unwahrscheinlichere Masken herausoperiert. Je echter, desto künstlicher bewegen sich Lucie, Herr Schleuß, Henri und Sorbier und wir treten gemeinsam auf als Kakadus, Graugänse, Seidenreiher, Kofferfische, deren Schreckmuster den Anfang unserer Empfindlichkeit bedeuten.”

Die Graugänse des Konrad Lorenz kehren in Fichtes Versuch über die Pubertät mehrmals wieder. Sie sind für den Autor das Beispiel dafür, “welch ungeheuer große Rolle die Selbstdressuren in der Biologie auch geistig recht tiefstehender Tiere spielen” (Lorenz), und in ihrem Bild erscheinen ihm auch die Prägungen des Ich von der Geburt an wie Ausdrucksbewegungen, die sich als Triebhandlungen beschreiben lassen. Zugleich konfrontierte Fichte die Pubertät, den Abschluß der Prägungen des Ich, wie sie sich im kleinbürgerlichen Milieu des Hamburger Vororts Lokstedt darstellen, mit den schamanistischen Initiationsriten der afroamerikanischen Kulte. Die ethnologische Perspektive macht den Blick frei für die Ritualisierungen, die man bisher nur komisch fand […]. Die “Methoden der ethologischen und ethnologischen Feldstudien auf das Lokstedter Innenleben” anzuwenden, heißt, die Komik der eigenen Existenz aufzudecken.

“Das karnevalistische Leben ist ein Leben, das aus der Bahn des Gewöhnlichen herausgetreten ist. Der Karneval ist die umgestülpte Welt”, schrieb der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin, und: “Der Karneval bildet in einer konkretsinnlichen, in einem Mischbereich von Realität und Spiel erlebten Form einen neuen Modus der Beziehungen von Mensch zu Mensch aus, der sich den allmächtigen sozialhierarchischen Beziehungen des gewöhnlichen Lebens entgegensetzt.”

Das Komische bei Hubert Fichte ist komisch im Sinn solchen karnevalistischen Weltempfindens. Es ist vom Grotesken nicht zu trennen. Wolli, eine der Figuren aus Fichtes vorletztem Roman Detlevs Imitationen Grünspan, bezeichnet einmal Prousts Recherchen ebenfalls als ein “Werk voller Komik … Ich hätte mich kringeln können, wie der Erzähler als Kind den vornehmen Swann imitiert.”

Die karnevaleske Dimension des Komischen ist bei Fichte deutlich erst seit Detlevs Imitationen nachweisbar. Die beiden ersten Romane (Das Waisenhaus und Die Palette) halten sich noch allzu streng an die Fiktion eines ‘literarischen’ Werks. Beide Bücher sind regelrechte Entwicklungsromane, Die Palette läßt sich außerdem als Schlüsselroman verstehen.

Detlevs Imitationen brechen nicht nur mit herkömmlichen Erzählformen, sie geben auch die Abgrenzung des Lebens gegenüber der Kunst auf. Diesen Vorgang führt Versuch über die Pubertät zu Ende. Die Vorstellung von einer Entwicklung (des Ich, der Person, des Romans) wird aufgegeben zugunsten der Vorstellung von der Existenz als einer theatralischen Prägung, wobei das Theatralische nicht ein vom Leben Abgehobenes darstellt, nicht etwas, das in gewissem Maß einen Gegensatz zu dem bildet, was man das Leben nennt. “Ich bewundere die abgespielten Gesichter und die geschminkten Hände, die falschen Ringe und die angeschabten Nobelgarderoben … ich bewundre die herrlich verfallenden Schauspieler mit ihren ausgerutschten Betonungen, ihren nicht mehr zu vermittelnden Gesten und ihren Mimiken, die nicht mehr für eine Inszenierung einzubändigen sind. Ich bewundere sie im Keller des Arbeitsamtes mehr, als ich sie je auf der Bühne hätte bewundern können in Antigone, im Prinzen von Homburg, im Snob, und ich möchte sein wie sie: vollkommen kunstvoll, überschichtet, erhaben unmöglich.” Das ist es auch, was er an der Figur des Alex W. Kraetschmar in Versuch über die Pubertät so bewundert: “ … eines lügt er nicht: Echtheit.”

“Schauspieler und Schriftsteller”, antwortet der Icherzähler von Versuch über die Pubertät auf die Frage, was er werden wolle: “Ich kann das nicht trennen.” Die Figuren aus Fichtes Romanen sind keine Erfindungen, der Autor ist ihnen begegnet. Aber so genau auch seine Reportagen sind, er beschreibt nicht die Personen als Existenz, sondern die Rituale ihrer theatralischen Realität. Dieses Theatralische hat nichts zu tun mit einem Welttheater, auf dem zwar Masken auftreten, jedoch hinter ihnen versteckt sich eine Substanz, die also nichts darstellen als bloße Maskerade, jene platonische Vorstellung von den Schatten an der Wand. Das Theatralische im Sinne des Karnevalesken, wie Bachtin es formuliert, war noch bis ins 17. Jahrhundert eine Form des Lebens, die sich auch der Literatur bemächtigte als einer Form des Lebens.

Nichts wäre widersinniger, als in den Figuren von Fichtes Romanen diese oder jene tatsächliche Person entdecken zu wollen. In dieser Richtung gibt es nichts zu entschlüsseln. Entschlüsseln würde heißen, hinter den Masken, hinter der theatralischen Realität noch etwas anderes fassen zu können: das Echte, das Wahre, das Wirkliche. Diesen Unterschied gestattet die karnevaleske Perspektive nicht mehr. Die Maske ist zwar die Maske, zugleich aber das einzig Wirkliche. Auch die beiden “anderen Pubertäten”, die in das Triptychon des Versuchs eingeschoben sind, verwandeln sich im Zusammenhang des “Romans”, obwohl sie aus Interviews mit benennbaren Personen hervorgegangen sind, in theatralisch-karnevaleske Realität. Selbst bei dem Bändchen Interviews aus dem Palais d’Amour etc. ist das der Fall, es sind keineswegs etwa Milieuschilderungen.

Hubert Fichtes schriftstellerische Arbeit wird durch seine gedruckten Texte nicht ausreichend repräsentiert. Seit über vier Jahren beschäftigt er sich journalistisch und wissenschaftlich mit den schamanistischen Kulten der afroamerikanischen Mischreligionen, die nach Ort und Form jeweils verschiedene Bezeichnungen tragen: Macumba, Candomblé, Cabocle, Umbanda, Vaudou etc. Er hat zwei Jahre in Brasilien gelebt, ein Jahr auf Haiti, lebt momentan auf Trinidad. Die Ergebnisse seiner Studien wurden im Rundfunk veröffentlicht, eine Abhandlung, Abo. Anmerkungen zu den rituellen Pflanzen der afrobrasilianischen Religionsgruppe, über die pharmakologische Zusammensetzung der Initiationstränke in der Zeitschrift Ethnomedizin publiziert. Vor allem im haitianischen Vaudou begegnete er dem karnevalistischen Weltempfinden. Er bemerkt dazu am Beispiel der Trance: “Hier in echt und unecht zu teilen, setzt säkularisierte, eurozentrische Werte … Die Mischung von echt, traditionsartig, rein, tief, diskret mit unecht, theatralisch, flach, gezielt gehört zum Synkretismus.”

Das Karnevaleske, das die Unterscheidung von echt und unecht aufhebt und die Grenze zwischen Literatur und Leben nicht mehr zuläßt, enthüllt die Fiktion des Ich schon im Leben (nicht erst in der Form der erzählenden Person des Romans) als theatralische Gebärde, als eine Art Selbstdressur. Was sich dabei verschiebt, ist die Vorstellung von der Identität. Fichte geht davon aus, daß es nur Imitationen gibt, Imitationen, die in Identifikation umschlagen können. “So imitieren, daß ich bin, was ich imitiere, und Imitation wieder für eine Theaterewigkeit umschlägt in Identifikation.” Identität in diesem Moment bedeutet dann allerdings die Auslöschung des Selbst und nicht sein Gewinn. Identifikation ist die Herstellung einer magischen Figur. Auch das ist eine Erfahrung aus der Begegnung mit den ekstatischen Formen der afroamerikanischen Kulte. “Es gibt Zustände, die man nicht lange imitieren kann, ohne von ihnen ergriffen zu werden.” Magie ist Imitation, die so lange wiederholt wird, bis in der Ekstase die Identifikation sich vollzieht.

Im Versuch über die Pubertät. Roman ersetzt das erzählende Ich die bisherigen Romanfiguren Detlev und Jäcki. Schon in Detlevs Imitationen durchbricht es immer wieder den Text. Zugleich wird zugegeben, daß Detlev eine Vorstellung ist von Jäcki, den Detlev imitieren wird. Das Ich, das schließlich den Roman Versuch erzählt, ist keine Maske des Autors mehr, sondern seine Existenz innerhalb der Fiktion, welche die Maske “ich” als Identifikation mit unseren Prägungen bedeutet. Im Schatten von Initiationsriten wird die Komik der Maske Ich beschrieben, die außerhalb der eurozentrischen Perspektive nie diese Gültigkeit sich anmaßen konnte. (Eine Tatsache beispielsweise, die in der afrikanischen Psychiatrie eine entscheidende Rolle spielt.)

Thema des Versuchs ist die Pubertät, jene Entwicklungsstufe zwischen 13 und irgendwann, in der die Kindheit, die Zeit der Prägungen, zum Abschluß kommt. Die Initiationsriten lassen den Pubertierenden nicht allein mit sich, sondern verwandeln, was sich bei uns unter der Fiktion des Ich als persönliches Schicksal abspielt, in ein soziales Ereignis. Eine der stärksten Prägungen unseres Verhaltens entsteht nach Freud durch den Verlauf des ödipalen Dramas im 5. Lebensjahr des Kindes. Die Pubertät reduziert sich dann auf das Manifestwerden dieser Prägung. Der Versuch bestreitet die universelle Bedeutung des Ödipuskomplexes, er deformiert den Mythos zu einem Theatercoup. Fichte beschreibt die Pubertät nicht in den Kategorien der Entwicklung, sondern in denen der Schamanistischen Initiation: der Zerstückelung und der Wiedergeburt. In Mircea Eliades Untersuchung des Schamanismus heißt es über die Initiation bei den Samojeden: “… zuletzt schneiden andere dämonische Wesen seinen Körper in Stücke, kochen diese und tauschen sie gegen bessere Organe aus.” Die Initiation der Ichfigur im Versuch vollzieht sich bei einer Inszenierung Alex W. Kraetschmars, die “mir jeden angeborenen, anerzogenen eigenen Ton verfälscht … und mir schneidet er, ohne die Nervenbahnen zu unterbrechen, Muskeln und Sehnen heraus, bis wir nur noch ein Gerüstdarstellen aus Knochen und Sensibilität, und er setzt uns – Schamane und Akutotrinker in einem – aus durchsichtigem Harz neues Fleisch und neue Häute ein”.

Der Schamane ist ethnologisch eine ambivalente, bisexuelle Figur, der Erfinder des Ich, das sexuell nicht differenziert ist. Mit dem Versuch verknüpft Hubert Fichte seine vier Romane zu einem in sich verschränkten Zyklus. Der Jäcki der Palette ist die chronologische Fortsetzung der Ichfigur des Versuchs. Damit wird eine Gleichzeitigkeit der Romane hergestellt, die die Pubertät als Abschluß einer Entwicklung negiert. Es gibt kein Erwachsensein. Ich ist nur, wo zugleich auch Pubertät ist, Zerstückelung und Wiedergeburt. Die karnevaleske Komik, die dabei frei wird, besteht darin, daß der Autor das erzählende Ich als die dritte Figur einführt, als die Vaterfigur des ödipalen Dramas. “Töten das hassenswerte Ich!” Die Initiation des Ich im “Roman” gelingt ihm nur um den Preis der Kastration, der Vernichtung von Detlev und Jäcki, jener zwei Augen, durch die er bisher die Welt betrachtete. Ödipus blendet sich, um besser sehen zu können. Noch auf so abstrakter Ebene wiederholen sich die Symbole des Karnevals. “Sie schließen stets die Perspektive der Verneinung und des Todes in sich ein.”