Rote Luft. Schwefelig.

Wir landen hinunter in eine Sphäre des Hieronymus Bosch.

Aber die Luft reißt immer wieder auf.

Der Wind zwischen den Wolkenkratzern an Eistagen hat etwas von shakespearscher Heide.

An anderen Tagen hängt der Dampf bis zu den Reklametafeln hinunter.

 

Erde.

Der Asphalt von Manhattan.

Eine mit Asphalt überdeckte Insel.

Die Karosserien schlagen auf den Asphalt bei den rasenden Fahrten.

Nur einmal werden meine Schuhe von Erde schmierig: Als ich mit Leonore für ein Foto auf die Rabatten vor dem Pan-Am-Building springe.

 

Wasser.

Die Insel ist von Wasser umgeben.

Sie liegt am Meer.

Aber das Wasser wirkt ausgesperrt, wie etwas Feindliches.

Die Fremden bekommen vom Leitungswasser Allergien.

Wie die New Yorker in London, Paris, Hamburg Allergien vom fremden Wasser bekommen.

Fluor im Wasser.

Stillt das Fluor im Wasser von New York Zahnfleischbluten, frißt den Blasenkatarrh weg und die Mykosen?

Fluor soll Krebs erzeugen, steht in der Zeitung.

Tee schmeckt nicht nach Tee.

 

Das Feuer wird durch die Feuerleitern an den Häusern vorgezeichnet.

Alle fünf Minuten die Posaunen der Feuerwehr.

Täglich verbrennt ein Kind.

Sexualmörder zünden ihre Opfer an, Hausbesitzer ihren Besitz.

In den Buchläden gibt es zwei Bücher über Brände.

The Fire Next Time, schrieb James Baldwin.

Heute: Feuer täglich.

Wie soll ich sie nennen, die Nachfahren jener 12 Millionen von allen europäischen Nationen verschleppten Afrikaner?

Es sind Afroamerikaner.

Aber wenn ich einen Puertoricaner so bezeichne, verschließt er sich kaum merklich; jede Erklärung, daß Afroamerikaner der am wenigsten rassistische Name sei, ist da vergeblich. Ein Puertoricaner nennt sich und seine Kameraden “braun”. “Schwarz” klingt weniger gestelzt, aber was ist mit denen, die braun sind und heller? Mulatten? high yellow, gelb – wie auch François Duvalier sagte?

“Negro” – Neger? Nein.

“Colored” nennen sich manche Afroamerikaner selbst.

Farbig.

Gefärbt.

Begriffslabyrinthe.

Es sind die Labyrinthe der jahrhundertealten Verletzung.

Übergriffe, Angriffe, Eingriffe, Greifen.

Wann weiß ich genug?

[S. 63–64]

 

In den Straßen der Elendsviertel von New York wird ein Kampf ausgetragen, heftig wie die Überfälle von Mob und Banden – ein ästhetischer.

Mauern, Wände, Asphalt, Telefonboxen, Spielplätze, Autostraßen sind die Schlachtfelder.

Auf der einen Seite “Graffiti” – nach Sgraffito, der Wandkratzmalerei der Renaissance – Schemen, Kleckse, Schriftzüge, Parolen, Glas, Samen, Teer, bis hin zum Mord als Schöner Kunst: Burn Fags! – Verbrennt die Tunten! – auf der anderen Seite Mauermalereien, Wandbilder, soziale Fresken, bestenfalls an die Fresken der mexikanischen Revolution erinnernd, schlimmstenfalls an die engen Vorlagen enttäuschter Kunstpädagogen.

Die Banden des Sgraffito könnten sich auf die Höhlenmalereien in Afrika, in den Pyrenäen und der Dordogne berufen, auf die magischen Bannzeichen der Jäger, auf die Ledermänner von Les Trois Frères, auf eine unterirdische Tradition von Besessenheit und Anruf, auf Leonardo da Vinci und alle Versuche informeller Kunst, auf die Wände der mexikanischen Revolution und die Mauern des chilenischen Sozialismus.

Die Ölmaler der Mauerbilder berufen sich auf die vorgeschichtlichen Höhlen, auf die Paläste in Ägypten, Kreta, Pompeji, auf die etruskischen Gräber.

Sie berufen sich auf die Kompositionen der Romanik, auf St. Savin sur Gartempe, auf Leonardo – und auf alles, was in Badeanstalten und Leihbüchereien, in Sparkassen und Elektrizitätswerken kräftig, ernst und überlebensgroß auf uns herniederblickt.

Und die Ölmaler der Mauerbilder berufen sich auf die Wände des chilenischen Sozialismus.

 

Dieser Kampf in den Elendsvierteln von New York geht darum, ob man dem Einzelnen, der Außenseitergruppe, Anfechtern und Kriminellen zubilligt, in einem wilden Versuch, die Errungenschaften der Allgemeinheit anzuschwärzen, ob man meint, in einer irregulären Anstrengung könne das kollektive Unbewußte ausgedrückt und diskutiert werden, könne das Elend zu einem Bewußtsein seiner selbst gelangen – oder ob man versucht, die Widersprüche, die Unterlegenen zu bündeln, zu stilisieren, eine glückliche Mitte, ein Happy Medium herzustellen, die Realität und die Utopie leuchtend zu überhöhen.

Dieser Kampf findet um jedes der Hunderte von Mauerbildern statt, täglich, zwischen den Ideologen, den Gruppen, den Banden, in den Familien, zwischen Bruder und Bruder.

In New York, unter den Afroamerikanern findet eine zweite Auseinandersetzung statt.

Diese ist diskreter, intimer – vielen unbewußt.

Eine Fülle von afroamerikanischen Instituten, Studiengesellschaften hat sich nach den Aufständen der 6oer Jahre herausgebildet.

Doch der Gründerenthusiasmus scheint vorüber.

Was fängt eine Wegwerfgesellschaft mit ausgebildeten Afroamerikanisten an?

Immerhin gibt es heute eine Masse von nicht mehr ganz jugendlichen Damen und Herren verschiedener Hautfarbe und Nationalität, die studiert und erkannt haben, daß die Tropen triste sind, daß es im Vaudou die Trance und in Afrika den Einfluß der Industrienationen gibt, Damen und Herren, die, nach einer oft traurig oder entscheidungslos auseinanderlaufenden Beziehung mit einem afrikanischen Stipendiaten in New York und nach einigen Wochen Stipendium in Afrika, das bahnbrechende Buch über die Türen der Dogon oder den Ödipuskomplex bei den Tschokossi nicht veröffentlichen.

Aber jeder Afroamerikaner denkt mit Haley oder seit Haley an seine Wurzeln und viele Schwarze in New York mögen die intellektuellen Strukturen von Gambien besser kennen als die von Bronx oder Brooklyn.

Und fast jeder Afroamerikaner schreckt zurück, wenn die Frage um afroamerikanische Kultur, afroamerikanische Religionen geht, hier und jetzt, in Harlem, an der Lower East Side.

Für den linken Exhilhaitianer ist der Synkretismus des Vaudou in New York ein Ausdruck und ein Mittel der Diktatur der Duvaliers.

Für den Puertoricaner in New York sind die schwarzen Religionen ein atavistischer Rest, den er vor seinen Freunden zu verheimlichen sucht.

Für den schwarzen Intellektuellen von New York sind alle diese schwarzen Bräuche ein lächerlicher Verschnitt aus „echter” afrikanischer Kultur, die er studiert oder lehrt, ein Verschnitt, vor dem er Angst hat.

 

Wir wollen nach Brooklyn in den Japanischen Garten, wo die Hochzeitspaare der Afroamerikaner spazierengehen und sich fotographieren lassen.

Wir fahren an den Hochhäusern der Lower East Side entlang.

Ich entdecke in dem erdrückenden Graubraun einen bunten Kinderspielplatz:

Kamele, Motorräder, Eidechsen aus bemaltem Beton und einen kleinen Hund, platt auf den Boden gedrückt, fast unter Laub verborgen.

Der Sattel des einen Kamels – zierliche Arbeit aus Mosaik.

Gegenüber Telefonboxen mit schwarzen Schlieren vollgemalt, als sollten sie zu Urwaldgestrüpp zurückverwandelt werden.
Eingegitterte Sportplätze.

Gitter hinter Gittern und dahinter, da durch ein Sgraffito, ein rauhes, inoffizielles Wandbild. Einzelne Stenogramme der Seele, wütende Farbgebung und doch ein bedrohliches Gesamtbild, dessen jedes Detail man als Pissarro, Seurat, Miró, Sam Francis, Pollock, Twombly, Tapiès, Frankenthaler, Lil Picard aussondern könnte, heftiger, phantasievoller, sensibler als Pollock und Frankenthaler.

Für dies wilde Gesamtkonzept fehlt uns noch das ästhetische Kriterium.

Auch hier gibt es ganze Straßenzüge, die ausgebrannt sind.

Gelegentlich sieht ein Afroamerikaner aus einem halbzerstörten Haus.

Kinder spielen zwischen den Ruinen.

In einem Hinterhof qualmt es.

Die Posaunen der Feuerwehr.

Das rote, altmodische Fahrzeug mit den uniformierten Männern in blanken Helmen fährt herbei wie in einem historischen Film.
Mit Riesenstrahl löschen die Blitzmänner eine Räucherdose.

Neben den schwarzen Fensterhöhlen, den rosa Flächen, auf denen die Bewohner die Schäferhunde ausführen, die zuckenden Botschaften der Sgraffiti, Zinnoberrot auf Blutrot und die überlebensgroßen Ölgemälde der gelernten Künstler.

Aber auch ungeschickte, halboffizielle – Love is Art, steht da.

Eine Riesen-Mickey-Mouse und im Hintergrund die beiden Türme des pleiten World-Trade-Center.

Spät kommen wir in Brooklyn an.

Der Japanische Garten ist wegen Kälte geschlossen.

Keine schwarzen Bräute im Schleier.

 

Der Mann von der UNO:

13000 Häuser haben im letzten Jahr in New York gebrannt.

7000 dieser Brände waren Brandstiftung.

Im Fernsehen:

4200 Wohnungen ohne Heizung.

 

Es gibt schwarze Brasilianer in New York, die feiern Karneval in einem Hotel mit über Monate zusammengenähten Kostümen.

Aber die brasilianische Gemeinde in New York ist klein.

Brasilianer kommen kaum als Arbeitssuchende – sie kommen als Besucher mit Geld.

Von ihren Religionen scheint nur die volkstümliche Macumba die USA zu erreichen.

Es gibt viele Einwanderer aus der Dominikanischen Republik, dominikanische Devotionalienhandlungen, afrikanisch-spiritistische Erbauungsstunden.

Die Exilkubaner sind eine besondere Gruppe.

Ein großer Teil des umfassenden religiösen Systems der Afrokubaner wird in New York reflektiert.

Aber viele Kubaner siedeln von New York nach Miami zurück.

Es gibt in New York kubanische Devotionalienhandlungen, kubanischen Spiritismus, meistens von den Frauen der Santeriapriester ausgeführt, es gibt die Yoruba-Religion der Santeros, Wahrsagepriester, wenn auch in New York das Allerheiligste, die Reliquie, das Olofi, ohne welches kein neuer Wahrsagepriester geweiht werden kann, fehlt.

Es gibt fehlerhaft eingeweihte Wahrsagepriester.

Es gibt die kubanischen “Kongos” mit ihrem Bluttopf – einen Kongopriester, der seinen Bluttopf an das Elektrizitätsnetz angeschlossen hat, und wenn die Gläubigen niederknien, dreht der Priester am Schalter und der Bluttopf fängt an zu zischen und zu dampfen.

[S. 68–72]

 

An der 42. Straße, zwischen Pornoshows und den fliegenden Rauschgifthändlern, die ihre Waren ausrufen wie die Gemüsefrauen bei Proust oder Dowland – Nyabinghis African Shop. Der Türhüter hat eine erstaunliche Geste zur Begrüßung:

Er neigt sich vor.

Er berührt meine rechte Hand nicht, sondern tut so, als streue er von oben Sand oder Salz darauf herunter.

Nyabinghi selbst faßt mir an den rechten Unterarm; dann gleiten unsre rechten Hände aneinander vorbei und der Gruß endet für ihn mit Schnalzen von Daumen und Mittelfinger.

Er komme aus dem Sudan, sagt er.

Das Schnalzen mit Daumen und Mittelfinger kenne ich nur aus Westafrika.

 

Es leben vor allem Nigerianer in New York.

Aber auch Ghanesen, Senegalesen und Guineer.

Das Amt für Statistik spart Afrika als Herkunft im Brief an mich aus.

Viele Afrikaner kommen als Studenten und bemühen sich – auf die westliche Technokratie schimpfend und Afrika preisend – um ein Visum nach dem anderen.

Afrikanische Läden sind Mode.

The Merchants of Oyo.

Nyabinghi.

Aber auch im tiefsten Brooklyn gibt es einen Afrika-Shop mit ghanesischen Webwaren und dem Bild Haile Selassies.
Und im Hotel Chelsea, wo Tom Wolfe und Dylan Thomas lebten und wo Sid Vicious‘ Freundin mit aufgeschlitztem Leib starb, wohnte jahrelang der nigerianische Prinz, Maler, Musiker, Babalawo Oloruntoba. Er warf die Kauris zur Wahrsagung und schlachtete die Opferhühner, daß das Blut auf die Zeichen der Götter tropfte.

Seit 1968 ist es verbreitet, Yoruba zu lernen.

 

Zwischen Amsterdam Avenue und Broadway, am Rande von Harlem, leben Geisteskranke.

Der Staat zahlt ihnen die Miete.

Sie holen sich die Tranquilizer und die Analeptica in den Psychiatrischen Instituten ab und leben ihre gedämpften Stunden in Stundenhotels.

Manchmal laufen sie mit einem großen Messer herum – aber sie sind leicht zu bewältigen.

Hier ist auch der beste Wiener Konditorladen von New York und hier sind die meisten Handlungen von Devotionalien und Paramenten, Botánicas genannt, weil dort eigentlich die Kräuter für die Einweihung gekauft werden sollten, aber was es auf Kuba, Haiti und in Brasilien noch gibt, als ein Echo der afrikanischen Botaniken, ist hier in der Stadt ganz weggedorrt im Bewußtsein und hier werden vor allem Liebeszauber in Spraydosen angeboten, Heilige und Schallplatten.

Die Schaufenster sind vollkommene Surrealistische Ausstellungen, Popassemblagen.

Der alte Mann in der Botánica San Antonio ist einer der bedeutendsten Orakelpriester der USA.

Der alte Mann in der Botanica Santa Fé hat die Tür mit einem Vorhängeschloß gesichert.

[S. 75–77]

 

Die Black Emergency Cultural Coalition, eine Notkoalition für Schwarze Kultur, entstand 1968 als Protest gegen das Metropolitan Museum in New York.

Heute hat sie 30 Unterrichtsprogramme in 11 Staaten der USA.

Michael Chisolm, 31, Afroamerikaner aus New York, Maler, Fotograph, Kunstpädagoge und Gastrosoph arbeitet als Koordinator bei der B.E.C.C.

Michael erklärt sich als Marxist, was man, wie es scheint, in New York sein darf, ohne Repressalien in seiner Lehrtätigkeit ausgesetzt zu sein.

– 1968 wurde im Metropolitan Museum eine Ausstellung gezeigt “Harlem on My Mind”. Die Show wurde von vielen schwarzen Künstlern kritisiert und sie taten sich zusammen in der B.E.C.C.

Die Fotos des großen schwarzen Fotographen James Van Der Zee wurden mißbraucht. Die Ausstellung zeigte nicht jeden Aspekt des Lebens in Harlem. Was James Van Der Zee hat, ist eine Geschichte aus Fotos – im Metropolitan Museum war es die Atmosphäre einer Karneval-Side-Show.

Die Fotos wurden benützt, wie man Zahnpastareklame macht.

Als dann die Ausstellung geschlossen wurde, war die Gruppe schwarzer Künstler weiter zusammen. Und wenig später gab es die Gefängnisaufstände in Attika, im Staate New York. Die B.E.C.C. entschloß sich, Kunst in den Gefängnissen zu lehren. Man kann dieses Vorgehen entschuldigen.

Es bedeutet für einen Gefangenen sehr viel, wenn jemand von der Außenwelt kommt und beachtet ihn. Es erhält seine Würde.

Es gibt ihm Würde zurück.

– War die Revolte in Attika schwarz?

– Sicher.

– Unterrichten Sie in Attika?

– Nein. Wir haben unsere Programme in den Haftanstalten von Manhattan und Queens. Es wurde uns nie erlaubt in Attika zu unterrichten.

– Jean Genet behauptet, daß das kriminelle Kind harsche Bestrafungen will, Todesstrafe, keine Milde, denn die Strafe würdige sein Verbrechen.

– Für Jean Genet ist es wohl richtig. Für einen solchen Sadomasochisten wie Jean Genet ist Kriminalität fast zu einer Kunstform erhoben worden.

– Und in Bronx?

– Kennen Sie nicht das Sprichwort:

If you can’t pay the Time

Don’t do the Crime!

Aber die meisten Verbrechen dort haben ihren Ursprung in der Verzweiflung – Vergewaltigungen, Brandstiftungen, bewaffneter Raub.

Und dann wird es zu einer Art Karriere.

Ich weiß nicht, warum meine Schüler im Gefängnis sind. Ich weiß nicht, welches ihr Verbrechen war. Davon wird selten gesprochen.

Es ist ein Aspekt der Würde, der erhalten bleiben muß. Der Gefangene muß etwas behalten, was ihm gehört.

Die Leute sind ganz naiv, was Kunst anlangt. Sie wollten so realistisch wie nur möglich ihre Freundinnnen malen können, nach Fotographien etc. Wenige interessierten sich für Kunst als Abstraktion. Wir bildeten also drei Gruppen in einer Klasse:
Leute, die sich mehr für Kunst interessierten, Leute, die nach einem Modell zeichnen wollten, und Leute, die nach Bildern oder Fotos zeichnen wollten.

Wir hatten Kunstvorführungen und sogar chinesische Kalligraphen.

– Waren alle Schüler schwarz?

– 95 %. In unserer Klasse von 40 sah ich vielleicht zwei Weiße.

– Wieviele Gefangene gab es in den “ Gräbern?”

– Tausende. Tausend.

– Und von diesen Tausend unterrichteten Sie vierzig?

– Ja.

Murals, Mauermalereien, sind im Augenblick eine therapeutische Mode.

Wir haben Murals mit psychiatrischen Patienten gemacht. Unser Programm im Gefängnis von Rhode Island befaßte sich beinahe nur mit Murals. Das ganze Gefängnis ist voller Mauermalereien. Die Gefangenen stellen sich zusammen, planen wie es sein soll, sie malen es blitzartig und rennen auseinander.

 

Ich frage Michael Chisolm nach den Sexualphantasien der Gefangenen:

– Es wurde nie darüber gesprochen. Das Äußerste, was geschah, war, daß die Gefangenen weibliche Modelle wünschten – angezogene weibliche Modelle.

Verändern wir die Qualität des Lebens der Gefangenen?

Ich weiß es nicht.

Der Gefängnisaufenthalt wird angenehmer durch uns.

Das ist ein schwaches Statement.

– Wo leben die Schwarzen in New York?

– Sie sind immer noch in abgegrenzten Arealen. Sie finden sehr wenige Schwarze in der Fifth Avenue, einige.

Das ist primär eine ökonomische Segregation. Sie lebten vor allem in Harlem. Auch heute noch. In Upper West Side leben viele Schwarze der Mittelklasse. Viele Schwarze, sobald sie Geld gemacht haben, ziehen in die Vororte. Sie wollen, wie die Weißen, nicht länger in der City leben.

Die Arbeitslosigkeit war immer groß unter den Schwarzen. Die Statistiken beruhen auf der Zahl der Leute, die Arbeitslosenunterstützung erhalten. Die hört nach 39 oder 36 Wochen auf. Die Wohlfahrtsempfänger sollten gerechnet werden.

Viele holen sich keine Wohlfahrtsunterstützung. Viele begehen eher Verbrechen.

– Wieviel kriegen Wohlfahrtsempfänger?

– Nicht viel. Eine Familie mit zwei Kindern etwa 200 Dollar im Monat.

Viele Leute aus Bronx sind nie auf der Fifth Avenue gewesen oder auf der Freiheitsstatue. Bronx ist ein Ghetto und sie kommen nie aus ihren Gangs und Gruppen, die jede Altersklasse in diesem Ghetto kontrollieren, heraus.

Das Fernsehen ist die Hauptkraft, die Werte etabliert. Gewalt ist im Fernsehen ständig präsent und in den Filmen, die sich jeder ansieht in South Bronx.

Alle diese Filme mit schwarzen Bösewichtern. Hollywood hat sich entschlossen, die Schwarzen in den miserabelsten Filmen auszubeuten.

– Wie ist es mit den afroamerikanischen Einwanderern?

– Das Einwandererproblem hat es immer in den USA gegeben. New York ist ein anderes Leben als in der Karibik – ohne Großfamilie. Es gibt sehr viele Geisteskranke unter diesen illegalen Einwanderern.

– Drei Tatsachen wirft die Silent Majority den Negervierteln vor: Unruhe, Kriminalität und Dreck.

– Ja, arme Leute sind dreckig. Die Häuser sind in schlechtem Zustand. Die Müllabfuhr ist seltener. Wenn in einer East-Side-Gemeinde jeden Tag die Müllabfuhr kommt – und das sollte sie –, dann kommt sie in Barlern nur zwei- oder dreimal die Woche oder sogar nur einmal.

 

Auch Michael Chisolm lehnt die Sgraffiti ab – wie viele Kunstpädagogen:

– Ich hasse Sgraffiti. Was ich täglich sehe, ist Junk: Burn Fags. Burn Niggers. Kill the Jews.

– Ich habe in Harlem nicht: Verbrennt die Nigger gelesen.

– Nein. Das schreiben weiße Jungen der Mittelklasse in Mid-Manhattan.

– Fanden Sie nie, daß die afroamerikanischen Religionen eine unerhörte künstlerische Welt darstellen?

– Doch. Aber mit Zwölf entschied ich mich, daß Gott nicht existierte. Das war ein Schock für mich. Und bis 15 war ich gezwungen, weiter in die Kirche zu gehen. Mein Hauptinteresse war immer westliche Kunst, Frühchristliche Basiliken. Religiöse Praxis interessiert mich nur, wenn sie mit afrikanischer Kunst zu tun hat. Ich war nie in Afrika. Vielleicht sind mir die afroamerikanischen Religionen zu nahe an meiner Heimat. Ich habe nie den eigenen Hinterhof studiert. Alles, was ich studiert habe, mußte 1000 Meilen weit weg sein.

– Sie lehren afrikanische Kunst?

Lehren Sie, daß es diese Kunst verwandelt in New York gibt?

– Ich weiß es.

– Aber Sie waren nicht dabei?

– Das brauche ich nicht.

– Wissen Sie, daß es kubanische Ñañigos in Brooklyn gibt, die ihre Prozessionen machen? Wissen Sie, was Ñañigos sind?

– Nein. Ich weigere mich, den Schülern Beispiele aus ihrer eigenen Kultur als Kunst vorzuführen. Das ist eine andere Methode.

– Gibt es Kurse über afroamerikanische Kunst?

– Ja, sie behandeln schwarze Maler und Bildhauer, es sind mehr oder weniger wichtige Künstler, die zufällig schwarz sind. Künstlerisch gemeinsam haben sie wenig.

– Studieren Sie die Volkskunst von Bahia, Carthagena, Grenada und Sie werden sehen: Da ist ein afroamerikanischer Stil.

– Es hat nie jemanden gegeben, der das als Kunstform lehren wollte.

 

Ich frage Michael nach der ideologischen Ausrichtung der B.E.C.C.:

– Die B.E.C.C. hat keine Ideologie.

– Was ist ihr Ziel?

– Die Diskriminierung in der Kunstwelt zu bekämpfen und Kunst durch Professionelle zu lehren, Leute zu lehren, die sonst keinen Zugang dazu hätten.

– Wo kommt das Geld her?

– Vom National Endowment of the Arts.

 

Um vier Uhr nachmittags beginnt die Zeremonie in der Botánica La Fé.

Vor jedem Gläubigen wird das Vorhängeschloß aufgehakt, hinter ihm wieder zugehakt.

Vierzehn Frauen.

Elf Männer.

Die meisten aus der Dominikanischen Republik.

In einer Ecke oben ein roter Christus mit abgeschlagenen Armen – er hat sich geweigert, eine Gnade zu gewähren und wurde zur Strafe von dem Bittenden verstümmelt.

Gegenüber der afroamerikanische Altar mit Vorweihnachtsglitter und Neomöhre.

Ein Tisch mit Tischdecke, eine Glasvase voller Wasser zwei Rumbarasseln.

Die Würdenträger setzen sich um den Tisch.

Die Gemeinde sitzt dem Tisch zugewendet.

Bibellesung.

„Vater unser”.

Kirchenlieder.

Die Frau fängt an mit dem Oberkörper zu zucken, Weissagungen herbeizublubbern, mit den Armen zu rütteln.

Das ist übrig hier von den Trancetänzen Afrikas, den begeisterten Choreographien durch Wälder, Totenäcker und Flüsse – eine Art Sitzparkinson.

Unecht?

Als die Frau aus ihrer Trance zurückfindet, haben die schwarzen Ringe unter ihren Augen das Gesicht in einen Totenkopf verwandelt.

Auch die anderen um den Tisch werden ergriffen und stoßen Prophezeiungen aus:

– Fühlen Sie nie einen kalten Schauer, wenn Sie sich ins Auto setzen?

– Sehen Sie sich vor, daß Ihnen keine Kisten auf den Kopf fallen!

Dann konzentrieren sich die Gläubigen. Eine „Übertragung” wird vorgenommen, um einem kranken Jungen in Santo Domingo zu helfen.

Der Priester hält die Schlange in der Hand, die das Leben des Knaben bedrohte; schäumend vor Besessenheit steckt er sie in das Wasserglas, in den geistlichen Brunnen.

Die Wahrsagungen in New York sind – im Vergleich zu Miami oder Santo Domingo – bösartiger, unnachgiebiger, sie verfolgen den Betroffenen, bis er endlich gefangen ist, zugibt.

Unter sich sprechen die Leute spanisch, aber die junge Priesterin verwechselt bei einer Prophezeiung Yeso und Hielo – Gips und Eis. Sie wird von ihren Eltern verbessert.

Auch wir kriegen unser Fett.

Der Prophet sieht hinter Leonore mit ihren Apparaten einen überlebensgroßen Anderen stehen, mit einer größeren Kamera und einem gewaltigeren Blitz und der fotographiert sie jedesmal, wenn sie ein Foto macht.

Der alte Mann, der wie Picasso aussieht, ist der Clou des Abends. Seine Trance tritt zuletzt auf. Er verkörpert wohl einen zotigen Neger. Es amüsiert die Gemeinde sehr, daß ich als erster über die göttlichen, spanischen Schweinereien lache.

Zum Abschluß erheben alle die Hände.

– Wenn wir die Hände erheben, nimmt Gott uns alles Elend ab.

Dann ein letztes „Vater unser”.

Dazu erheben sie nur eine Hand.

 

November 1978

Nach den schwarzen Göttern der Afrikaner sind in der Neuen Welt weiße Heroen der afroamerikanischen Studien hochgewachsen.

Der sagenhafte Pierre, der vor 40 Jahren die heiligen Steine der Göttin Oxum von Brasilien nach Nigeria zurückbrachte.

Er verließ seine reiche französische Familie, lebte als Fotograph, wurde in Afrika eingeweiht.

Er fällt in Trance, veröffentlicht die wichtigen Nachschlagebände und lebt nur von Eiern.

Alfred Métraux, der sich, nachdem er haitianische Priester in Paris eingebürgert hat, vom Eiffelturm stürzte.

Lydia Cabrera, aus einer reichen Familie in Kuba, in Miami – Lydia, die vollkommene Stenographin afrokubanischer Kultur, die ein Werk verfaßte, das an mythischer Vielfalt und poetischer Dichte dem des James Joyce nahekommt.

Lydia, wie eine Göttin geachtet von Princeton bis Ibadan.

Lydia, die, wie Proust, selbst für den Druck ihrer Werke bezahlen muß.

Maya Deren, die lange tot ist.

Maya Deren fuhr in den dreißiger Jahren von New York nach Haiti und lebte dort mit dem Vaudoupriester Isnard zusammen, den ich noch kennenlernte, der tot ist.

Maya Deren entdeckte den Maler André Pierre, der noch lebt.

Teiji Ito ist Japaner und hat einen Lehrer für japanischen Schwerterkampf.

Teiji Ito bearbeitete jahrelang „Finnegans Wake“ und spielt es jeden Abend off Broadway.

Teiji Ito war der Mann von Maya Deren.

Lydia Cabrera schenkte Maya Deren, vor der kubanischen Revolution, als sie Alfred Métraux und Pierre Verger in ihrem Familiensitz empfing, eine Trommel der Geheimgesellschaft Abakua.

Eine Trommel aus einem Totenkopf.

Die Schädeldecke wird abgesägt und eine nasse Ziegenhaut darübergespannt.

Drei Holzstöcke als Trommelfüße im Oberkieferknochen.

Der Priester schlägt die Trommel nicht.

Der Novize hört ihren Ton im Augenblick der Einweihung.

Ein Holzstab wird auf das Trommelfell gestellt und der Priester reibt an dem Stab herunter.

Cherel und Teiji Ito wollen Lydia Cabrera die Schädeltrommel zurückschicken.

Aber Lydia sagt mir am Telefon, daß sie die Trommel der Abakua nicht mehr brauche.

– Ich bin alt wie das Jahrhundert!

Teiji Ito ist ein Vaudoupriester.

Er hat von Maya Deren die heiligen, bemalten Kalebassen des Malers Andre Pierre geerbt.

Er setzt sich zu den Bauern und singt ihre Lieder im Wechselgesang.

Er trommelt die Rhythmen der Götter.

Er beobachtet, daß der Trommelrhythmus den Geist öffnet.

Dann kommt eine Pause – ein break – ein andrer Rhythmus schlägt herein. Der Gott steigt in den Kopf herunter. Der Mensch fällt in Trance.

Teiji Ito erzählt mir von seiner Reise nach Japan.

Schon im Flugzeug verwandelten sich die Japaner zurück und unterwarfen sich ihren alten Systemen.

Er erzählt von seinem Lehrer im Schwerterkampf, der ihn zum Duell forderte, auf den er vergebens wartete – und gut so, denn sonst wären die Wände der Wohnung voller Blut gespritzt worden und keiner der beiden mehr am Leben.

Sein Bruder verliebte sich in die Freundin eines Freundes.

Der Freund erbrach die Tür, betrat die Wohnung, ohne die Schuhe auszuziehen.

– Das ist unerhört. Das bedeutet, er kommt, um zu töten!

Und da er den Bruder nicht fand, griff er Teiji an.

Teiji verteidigte sich mit dem Wanderstab der alten Samurai.

Schließlich fielen sich beide weinend in die Arme.

– Yukio Mishimas Selbstmord, sagte Teiji Ito, war sehr oberflächlich. Wohl war das Gedicht zum Abschied richtig abgefaßt, die Kleidung war passend und die Handgriffe exakt. Aber das Harakiri geschah nicht, wie es sich gehört, auf den Wink des Kaisers.

Teiji Ito erzählt von einem Doppelselbstmord in Japan:

Der bekannteste Rocksänger und die japanische Vertreterin von Yves St. Laurent.

Die Hausangestellten liefen entsetzt auf die Straße:

– Etwas Furchtbares geschieht. Sie ziehen Rasierklingen unter den Kopfkissen hervor.

Aber niemand greift ein.

Sie begehen den Selbstmord in der vorgeschriebenen Weise:

Im weißen Hemd und roter Hose.

Die Frau in einer roten Hose von Yves St. Laurent.

Teiji Ito trägt Jeans und eine rote, dickstaffierte Windjacke.

Er hat einen kleinen Bart und einen langen Zopf.

Auf dem Kopf einen Hut – halb Sepplhut, halb Melone.

Teiji Ito spielt auf der Totenkopftrommel der kubanischen Geheimgesellschaft der Abakua.

Er reibt mit dem Daumen und Zeigefinger beider Hände daran herunter.

Der Kopf beginnt zu stöhnen, zu stammeln, zu klagen.

Es ist der Urlaut.

Der geheime Schöpfungslaut der Einweihung.

Teiji Ito stellt die Schädeltrommel der Abakua wieder zurück hinter den Buddha und die Götterschalen aus Haiti.

 

Der japanische Taxifahrer will abends nicht an die Lower Eastside fahren.

Er wiederholt!

– Wo ist das? FDR-Drive, Delancystreet?

Er sucht Hilfe bei einem Kollegen.

Aber der erklärt ihm unerbittlich den Weg.

Der Taxifahrer wendet sich an einen Polizisten, aber auch der ist nicht bereit, mich wegen der Adresse oder wegen meiner langen Haare zu verhaften.

Ein Taxifahrer kann verklagt werden, wenn er eine Fahrt ablehnt.

Der japanische Taxifahrer fürchtet also um sein Leben oder um seine Lizenz.

Ich kann ihm auch nicht helfen.

Ich muß da hin.

Eddie Alicea, der uns vor dem Haus erwartet, erklärt mir:

– Vor ein paar Tagen ist hier ein Taxifahrer ermordet worden, vor ein paar Wochen ein Polizist an der Ecke. New York ist eine große Stadt. Das kann überall passieren. Wenn ihr so wollt, ist die 44. Straße, wo ihr wohnt, genauso gefährlich. Nur da geschieht alles hinter geschlossenen Türen.

Eddie zeigt mir sein letztes Bild:

Fast ein Matthieu von weitem.

In der Nähe verdeutlicht es sich zu einem interstellaren Flugzeug.

Phantastischer Fotorealismus – aber nach abstrakten Gesetzen komponiert.

Eddies zwölfjähriger Bruder heißt Spookie.

Er ist bleich, wie man nur mit zwölf bleich sein kann.

Er greift seinen Bruder an:

– Ich will auch Mauerbilder malen. Sgraffiti. Riesengroß. In Öl.

Spookie führt mich ins Treppenhaus.

Er zeigt mir die Zeichen seiner Bande.

Er erklärt mir, wie sie nachts in die U-Bahndepots klettern und die Züge bemalen.

– Vor den Wächtern haben wir keine Angst, nur vor den Hunden.

Spookie erklärt mir, was an den Wänden Sgraffiti sind und was nicht.

Einfache Druckbuchstaben gelten nicht.

Es muß etwas Kalligraphisches dazukommen, ein Strichwitz, damit es ein Sgraffito wird.

„Faggots” steht da.

– Was ist ein Faggot, Spookie.

Wie aus der Pistole geschossen, stellt sich der zwölfjährige Spookie in Pose:

Rechte Hand gespreizt nach unten. Fuß spitz nach vorn. Kopf schief.

– Ein Faggot ist ein Homosexueller, ich meine, ein Bisexueller.

Spookie kennt die Zeichen seiner Freunde genau.

Gelegentlich malen die einen die Zeichen der anderen.

Er zeigt mir seinen Schriftzug, den ein Freund für ihn hingesetzt hat:

Spookie the Depth!

[S. 80–90]